Lesetypografie

Systematik der Lesearten nach Hans Peter Willberg und Friedrich Forssman

Arten der Typografie 

Typografie ist Gestaltung von und mit Schrift. Diese Gestaltung hat immer einen Zweck – jedoch kann dieser ganz unterschiedlich ausfallen. „Die Typografie“ gibt es deshalb nicht. Vielmehr geht es um die Frage: Was soll mit der Typografie erreicht werden? Je nach Anforderung unterscheiden Willberg und Forssman (2010:14) zwischen:

  • Orientierungstypografie: Sie muss den richtigen Weg weisen – zum Beispiel am Flughafen oder in einem Fahrplan.
  • Werbetypografie: Sie soll Aufmerksamkeit erregen – dabei ist alles erlaubt.
  • Designtypografie: Sie will erneuern und Risiken eingehen, um neue Wege zu gehen.
  • Zeitungstypografie: Sie soll klar und deutlich sein und schnell zur Sache kommen.
  • Magazintypografie: Sie soll zum Schmökern einladen.
  • Dekorationstypografie: Sie soll schön sein. Lesbarkeit ist zweitrangig. 

Darüber hinaus erwähnen die Autoren die Typografie von Formularen, Verträgen und dergleichen, die ich an dieser Stelle als „Bürokratie-Typografie“ bezeichnen möchte. 

Typografische Entscheidungen fallen also je nach Anforderung an die Typografie. Die zuvor genannten Arten der Typografie unterscheiden sich in der Art, wie wir den Text lesen. Zusammengefasst fallen sie also alle unter den Begriff „Lesetypografie“. Eine besonders herausfordernde Art der Lesetypografie, die oben noch keine konkrete Erwähnung fand, ist die Buchtypografie. Sie ist besonders komplex, weil auch innerhalb des Mediums „Buch“ eine enorme Vielfalt besteht. Man denke nur an den Unterschied zwischen einem Lexikon und einem Gedichtband oder einem Roman und einem Schulbuch. Sie alle sind Bücher – jedoch werden sie auf völlig unterschiedliche Weise gelesen. Es gibt also auch nicht „die Buchtypografie“. 

Fotografie, Illustration und Typografie bilden die drei grundlegenden visuellen Sprachen von Gestalter:innen. Dabei verfügt die Typografie über die meisten Regeln. Die gestalterische Praxis lehrt einen jedoch schnell, dass nicht alle typografischen Regeln, die sich seit Jahrhunderten bewähren, immer gültig sind. Manchmal sind sie anwendbar, manchmal nicht und manchmal nur zum Teil. Da Bücher für das Lesen gemacht werden, schlagen Willberg und Forssman vor, bei typografischen Entscheidungen immer von der Art des Lesens auszugehen. 

Die Art, wie gelesen wird, ist der Maßstab für die Buchgestaltung – nicht Typografen-Traditionen, Ideologien oder Meinungen.

H.P. Willberg und Friedrich Forssman

Bei welcher Leseart gelten welche Regeln? – das ist nach Willberg und Forssman die richtige Frage. Und nicht: Bei welchem Buch gelten welche Regeln? Die beiden Autoren gehen in ihrem Grundlagenwerk der Lesetypografie von der Buchgestaltung aus. Ich bin der Meinung, dass die Frage, wie der Text schlussendlich gelesen werden wird, bei allen anderen Medien genauso gestellt werden muss – und auch die unterschiedlichen Lesearten, die ich nun nachfolgend beleuchten möchte, können auf alle typografischen Werke, die längere Texte beinhalten zutreffen. 

Die Systematik der Buchtypografie

Die Systematisierung von Lesearten ist ein Resultat der Praxis. Bei jeder Gestaltung müssen Typografen Entscheidungen treffen, die plausibel argumentiert sein wollen. Doch auf welcher Basis? Laut Willberg und Forssman bietet die Art des Lesens die richtige Grundlage. Sie bezeichnen Lesetypografie als „Buchgestaltung vom Leser und vom Lesen aus gesehen“ (2010:14). Aus diesem Blickwinkel heraus differenzieren sie zwischen acht unterschiedlichen Lesearten und daraus resultierende Typografien: 

  • Typografie für lineares Lesen
  • Typografie für informierendes Lesen
  • Typografie für differenzierendes Lesen
  • Typografie für konsultierendes Lesen
  • Typografie für selektierendes Lesen
  • Typografie nach Sinnschritten
  • Aktivierende Typografie
  • Inszenierende Typografie  

Nachfolgend möchte ich diese Lesearten und die mit ihnen verbundenen typografischen Regeln näher beleuchten. 

1 Typografie für lineares Lesen

Lineares Lesen beschreibt die klassische Art des Lesens: eines nach dem anderen. Die Typografie soll hier möglichst großen Lese-Komfort bieten. Zu den Buchtypen gehören erzählende Prosa und Abhandlungen, die über viel Fließtext (also unstrukturierten Text) verfügen. Der Prototyp für lineares Lesen ist der Roman. Der Satz für lineares Lesen wie wir ihn heute kennen hat sich schon kurze Zeit nach der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern entwickelt. Tatsächlich konnte der Satz seitdem nicht mehr verbessert, sondern nur mehr modifiziert werden. 

Typografische Mittel

Durch das lineare Lesen haben sich die „klassischen“ Regeln der Buchtypografie ergeben:

  • unaufdringliche Schrift
  • Leseschriftgrad (zwischen 8 und 11 Punkt, je nach Schrift) 
  • enger Satz ohne „Löcher“, die den Lesefluss stören
  • 60–70 Zeichen pro Zeile und 30–40 Zeilen pro Seite 
  • ausgewogene Proportion zwischen Satzspiegel und Seitenrand 

Überschrift

Überschriften bieten den Gestalter:innen Spielraum bei diesem Buchtyp: Mit ihnen kann man die Individualität und den Charakter des Buches betonen. 

Auszeichnungen

Auszeichnungen sind im Mengentext integriert: klassisch sind die Kursive für Betonungen, Zitate und ähnliches, Kapitälchen werden für Eigennamen verwendet.

Beispiel der Typografie für lineares Lesen: ein Roman / Bild © Willberg und Forssman 

Gestalterischer Freiraum?

Die gestalterische Ähnlichkeit vieler Romane lässt vermuten, dass Typograf:innen wenig Freiraum hätten. Die Antiqua scheint ein Must-have, der Seitenspiegel immer derselbe. Dies ist jedoch nicht richtig. Ob ein Text gut linear gelesen werden kann, hat laut H.P. Willberg und Friedrich Forssman nichts mit einem konkreten typografischen Stil zu tun. Wenn der Text es erlaubt, können Absätze ungewöhnlich behandelt werden. Es kann auch eine Schrift gewählt werden, die sich angeblich nur für Akzidenzen eignet – wie von Sans Serif-Schriften oft behauptet wird. Eine Grotesk ist für einen Text, der linear gelesen wird, kein Problem, solange sie gut lesbar eingerichtet wird. Obwohl wir gewöhnt sind, dass Romane im Blocksatz gesetzt werden, kann man auch Flattersatz verwenden. Voraussetzung ist, dass die Satzqualität stimmt. Leser:innen dürfen nicht von einem zu aktiven Flattern oder sinnentstellten Worttrennungen abgelenkt werden. Die oben angeführten Zeichen- und Zeilenanzahl sind Faustregeln, mit denen man nichts falsch machen kann. Doch das schließt nicht aus, es auch einmal anders zu versuchen. Möchte man längere Zeilen setzen, dann muss anderswo für den Zweck der guten Lesbarkeit entgegengewirkt werden – zum Beispiel mit einer Schrift, die das Auge gut in der Zeile hält, einem etwas größeren Zeilenabstand und einem leicht getönten Papier, das ebenso angenehm auf das Auge wirkt.  

Auch eine Grotesk kann als Schrift für den Mengensatz verwendet werden – es kommt darauf an, wie gut sie hergerichtet ist. / Bild © Willberg und Forssman 
 
2 Typografie für informierendes Lesen

Informierendes Lesen meint das schnelle und diagonale Überfliegen des Textes, um einen Überblick zu gewinnen, ob die gesuchte Information zu finden ist und was genauer gelesen werden muss. Leser:innen wollen sich zu einem bestimmten Thema informieren, ohne das ganze Buch zu lesen. Zu den Buchtypen gehören Sachbücher und Ratgeber, aber auch Zeitungen. 

Typografische Mittel 

Der Text muss gut gegliedert sein: 

  • durch leicht überschaubare Einheiten 
  • durch kurze Zeilen mit circa 40–50 Zeichen pro Zeile
  • durch kurze Absätze / Abschnitte  
  • durch aktive Auszeichnungen (halbfette bis fette Schnitte, Initialen, Unterüberschriften)
  • Überschrift
  • Überschriften müssen kurze und deutlich über den Inhalt des nachfolgenden Abschnitts informieren. 
  • Auszeichnungen
  • aktive Auszeichnungen, die man liest bevor man den Absatz oder die Seite liest, z.B. halbfette Schrift, die einem ins Auge fällt
  • integrierte Auszeichnungen im Mengentext (wie bei der linearen Lesetypografie) 

Überschrift

Überschriften müssen kurz und deutlich über den Inhalt des nachfolgenden Abschnitts informieren. 

Auszeichnungen

  • aktive Auszeichnungen, die man liest bevor man den Absatz oder die Seite liest, z.B. halbfette Schrift, die einem ins Auge fällt
  • integrierte Auszeichnungen im Mengentext (wie bei der linearen Lesetypografie) 
Die Typografie zeigt, dass die Seite nicht von links oben nach rechts unten linear gelesen wird. Trotz vieler unterschiedlicher Informationen (Tabelle, Karte, Organisation mit Farbflächen, farbiger Schrift, Schriftmischung und Begriffsregister) wirkt die Seite übersichtlich und aufgeräumt. Der Rausatz (eine weniger belebte Form des Flattersatzes) sorgt für Stabilität, wirkt aber nicht so starr wie der Blocksatz. Alle Texte mit Grundschriftgrad halten auch Register (d.h. sie liegen auf dem Grundlinienraster), was dem Buch über alle Seiten hinweg Stabilität gibt. 
Bild © Willberg und Forssman 

Gestalterische Freiheit? 

Gerade die unterschiedlichen Textebenen und Inhalte, die sauber gegliedert sein wollen, müssen auch unterschiedlich gestaltet sein: Farbe, Schriftschnitte, Schriftgrade oder Schriftmischung bieten viele Möglichkeiten. Jedoch darf man nicht über das Ziel hinausschießen. Besser nach und nach unterschiedliche Absatz- und Zeichenformate einsetzen und immer kontrollieren, ob die Gliederung noch übersichtlich ist. 

Man kann aber auch durchaus Ungewöhnliches ausprobieren: Wird der Haupttext im linksbündigen Flattersatz gesetzt, könnten Legenden rechtsbündig dazu sitzen. Passt es zu Thema, kann auch mit dem Satzspiegel gespielt werden: Alle Kolumnen könnten, zum Beispiel, am unteren Seitenrand sitzen und nicht klassisch am oberen – wie im Beispiel nachfolgend. 

Freiheit der Gestaltung: Warum nicht alle Kolumnen am unteren Seitenrand sitzen lassen? / Bild © Willberg und Forssman
3 Typografie für differenzierendes Lesen 

Texte, die in sich stark mit Begriffen oder Passagen strukturiert sind, die unterschiedlich, jedoch gleichberechtigt sind, müssen typografisch differenziert gesetzt werden. Die Zielgruppe sind „Berufsleser:innen“, die eine solche differenzierende Literatur gewöhnt sind und denen man auch längere Zeilen oder vollere Seiten zumuten kann. Die Buchtypen sind wissenschaftliche Werke oder Lehrbücher. Eine besondere Form der differenzierenden Lesetypografie ist auch der Dramensatz. 

Typografische Mittel

  • gut ausgebaute Schriften, um gut differenzieren zu können: mindestens Kursiv, Kapitälchen, Halbfette und Halbfett-Kursiv
  • bis zu 80 Zeichen pro Zeile
  • ausreichender Zeichenabstand aufgrund längerer Zeilen
  • gute Vorbereitung und Probe aller typografischen Mittel
  • Detailgenauigkeit! 

Überschrift

Überschriften sollen thematisch gliedern. Durch ihre typografische Form muss man erkennen, dass sie einen höheren hierarchischen Stellenwert haben. 

Auszeichnungen

Es muss so ausgezeichnet werden, dass die Gleich-, Unter- oder Überordnung von Wörtern und Absätzen klar erkennbar ist. Dazu werden eingesetzt: Kursiv, Kapitälchen mit oder ohne Versalien halbfette Normale, Normale in Versalien, Sperrung (Abstand zwischen den Buchstaben wird fixiert), halbfette Kursive, halbfette Kapitälchen, kursive Kapitälchen, halbfette Normale in Versalien, leichte Normale, Unterstreichung, Schriftmischung, Farbe

Beispiel für differenzierende Lesetypografie mit vielen unterschiedlichen Auszeichnungen / Bild © Willberg und Forssman 

Gestalterische Freiheit? 

Da die Differenzierung mit vielen unterschiedlichen Auszeichnungen bereits die Herausforderung der Übersichtlichkeit darstellt, sollte man wenig bis gar keine dekorative typografische Gestaltung einsetzen. Es scheint besonders wichtig, den Inhalt zu verstehen, um die Typografie unterstützend einzusetzen. Durch die starke Verbindung von Inhalt und Typografie ergeben sich aber auch Möglichkeiten der gestalterischen Kreativität wie das nachfolgende Beispiel zeigt:

Auch die differenzierende Typografie bietet Möglichkeiten, kreativ zu werden: zum Beispiel, indem die Gestaltung in ihrer Form auf den Inhalt Bezug nimmt. / Bild © Willberg und Forssman 
4 Typografie für konsultierendes Lesen

Hier geht es um das gezielte Suchen von bestimmten Begriffen oder in sich geschlossenen Textpassagen. Leser:innen suchen eine konkrete Auskunft und sind deshalb besonders motiviert. Zu den Buchtypen zählen Nachschlagewerke aller Art mit Fußnoten, Anmerkungen, Register, Bibliografien, Zeittafeln u.a. Der Prototyp ist das Lexikon. 

Typografische Mittel

  • meist kleine Schriftgrade
  • gute lesbare Schrift
  • geringer Zeilenabstand
  • volle Seiten, um viel Information unterzubringen
  • oft mehrspaltiger Satz

Überschrift

Überschriften sollen so deutlich wie möglich gliedern. 

Auszeichnungen

Stichworte sollen ebenso so deutlich wie möglich ausgezeichnet werden. Andere Auszeichnungen müssen sich den Stichworten typografisch ein- oder unterordnen – je nachdem welche Funktion oder andere Leseart sie erfüllen. 

Typografie für konsultierendes Lesen soll die Suche bestimmter Begriffe unterstützen. Bild / © Willberg und Forssman

Gestalterische Freiheit? 

Gestalterische Freiheit ist bei Nachschlagewerken vor allem in der Schriftwahl und -kombination bzw. auch im Papier und Veredelung zu finden, da der oft mehrspaltige Satz und die große Textmenge wenig Spielraum auf der Seite lassen. Es gibt Schriften, die eigens für den Einsatz in Lexika gezeichnet wurden, da sie auch in kleiner Schriftgröße für optimale Lesbarkeit sorgen. Hier gilt es sich für den Mengentext genau umzuschauen. Die Kombination von Grotesk und Antiqua lockert auf – zudem können Linien oder andere grafische Elemente für eine bessere Gliederung sorgen und bringen gleichzeitig Dynamik ins Bild. 

Auch ein Nachschlagewerk gibt die Möglichkeit, mit gestalterischen Mitteln wie Linien Dynamik in den Satz zu bringen. / Bild © Willberg und Forssman 
5 Typografie für selektierendes Lesen

Soll selektierend gelesen werden können, muss das Buch inhaltlich und typografisch in verschiedene Ebenen gegliedert werden. Diese Ebenen können in Verbindung miteinander oder unabhängig voneinander gelesen werden – müssen also in beiderlei Hinsicht funktionieren. Zu den Buchtypen gehören all jene Bücher mit verschiedenen Inhalten, bei denen Teile der Seiten einzeln aufgesucht werden, zum Beispiel didaktische Bücher (Schulbücher) oder Kochbücher (mit Zutatenliste und Kochanleitung). 

Typografische Mittel

  • Gebot ist die eindeutige typografische Trennung der verschiedenen inhaltlichen Ebenen
  • dies kann mit allen typografischen Mitteln erreicht werden 
  • Typografie für selektierendes Lesen kann in der Regel nicht programmiert werden, sondern erfordert eine Bearbeitung des Layouts von Seite zu Seite.

Überschrift

Überschriften müssen klar in ihrer hierarchischen Stellung erkennbar und dem entsprechenden inhaltlichen Abschnitt zuzuordnen sein. 

Auszeichnungen

Wie bereits bei den typografischen Mitteln erwähnt, steht das gesamte typografische Repertoire zur Auszeichnung zur Verfügung: Kursive, Kapitälchen, Versalien, Halbfette, Unterstreichung, Farbe, Rastermarkierung, Rahmen, etc. 

Die Gestaltung sollte jedoch nicht überstrapaziert werden, da ansonsten Verwirrung droht. Symbole sollten nur dann verwendet werden, wenn sich die Bedeutung von selbst erklärt und diese nicht erst erklärt werden muss. (Ausnahme: Ein wiederkehrendes Symbol-Repertoire für das gesamte Buch, das zu Beginn einmal erklärt wird und sich in jedem Kapitel wiederfindet). 

Typografie für selektierendes Lesen muss Ebenen klar voneinander trennen, da manchmal nur Teile des Textes von Interesse sind. Bild / © Willberg und Forssman

Gestalterische Freiheit?

Gestalter:innen genießen volle Freiheit bei der Wahl passender Auszeichnungen. Da Lehrbücher vor allem für selektierendes Lesen gesetzt werden und nicht alle Lernenden gleichermaßen motiviert sind, ist es gut, wenn die Gestaltung den Rezipienten Spaß macht. Die Grenze der Gestaltung liegt jedoch dort, wo die Übersichtlichkeit zu leiden beginnt. Die Orientierung hat auch für selektierendes Lesen oberste Priorität. 

Besonderes Beispiel für selektierendes Lesen: ein kirchliches Gesangsbuch. Alles, das gesungen wird, steht in der Normalen – entweder unter den Noten oder in den Textstrophen. Alles, was zur Orientierung dient, ist in Versalien oder Kapitälchen gesetzt: lebender Kolumnentitel, Überschrift, Quellenhinweis). Was auf andere Textstellen im Buch verweist oder diese zitiert, steht kursiv. Die große Liednummer ist für konsultierendes Lesen gedacht – sie dient dem Finden des Liedes. / Bild © Willberg und Forssman
6 Typografie nach Sinnschritten

Hier wird der Zeilenfall (Umbruch) nach dem Sinnzusammenhang des Satzes gegliedert und nicht nach formalen Vorgaben. Dieser typografische Satz kommt vor allem bei Texten für Leseanfänger:innen zum Einsatz. Darüber hinaus kann Typografie nach Sinnschritten bei allen kurzen Texten eingesetzt werden, deren Umfang es zulässt, sie zeilenweise zu strukturieren und deren Inhalt schnell erfasst und sicher verstanden werden soll. Die inhaltsabhängige Gliederung wird entweder von den Autor:innen selbst oder vom Typografen Zeile für Zeile vorgenommen – diese Art des Satzes lässt sich also nicht programmieren. Geschichten für Lesebücher werden nicht nach Zeilenfall geschrieben. Hier müssen Typograf:innen den Text so lesegerecht organisieren, dass eine Balance zwischen sinngemäßen Zeilenumbrüchen und Flattersatz besteht. Der Flattersatz sollte dabei abwechslungsreich, aber nicht zu aktiv sein. 

Buchtypen bzw. Buchteile umfassen Fibeln, Bilderbücher, Lehrbücher für Fremdsprachen, Textaufgaben und Bildlegenden. Willberg und Forssman geben zudem an, dass Überschriften und Unterüberschriften immer nach Sinnschritten gesetzt werden sollen. Beim Impressum sollten ebenso möglichst sinnvolle Trennungen vorgenommen werden, jedoch sollte das Satzbild trotzdem zusammenhängend erscheinen.

Typografie nach Sinnschritten gliedert die Zeilenumbrüche nach ihrem Inhalt. / Bild © Willberg und Forssman
Wenn Kapitelüberschriften länger sind, laufen sie im Inhaltsverzeichnis gerne über zwei oder mehrere Zeilen. In diesem Fall dürfen sie nicht über die gesamte Breite gehen, sondern müssen sinngerecht unterteilt werden. / Bild © Willberg und Forssman
7 Aktivierende Typografie 

Aktivierende Typografie soll zum Lesen verleiten. Die Zielgruppe sind Leser:innen, die eigentlich gar keine sein wollen oder zumindest nicht geplant hatten, zu lesen: Schüler:innen, die kein richtiges Interesse zeigen oder Käufer:innen, die verleitet werden sollen, ein Buch in die Hand zu nehmen oder weiter darin zu lesen. Ganz unterschiedliche Bücher können aktivierend gesetzt sein – vom Schul- oder Sachbuch bis zum Geschenkbuch. Prototyp wäre nach Willberg und Forssman das Magazin. 

Typografische Mittel

  • es gibt im Grunde keine typografischen Einschränkungen
  • das Motto: anders sein, auffallen, neugierig machen! 
  • aktivierende Typografie funktioniert wie Werbetypografie und ist eine schöne Spielwiese für kommunikationsorientierte Designer:innen 

Überschrift

Überschriften sollen auffällig sein und Leser:innen einfangen. 

Aktivierende Typografie soll Aufmerksamkeit auf sich ziehen und zum (Weiter-)Lesen verleiten. / Bild © Willberg und Forssman
8 Inszenierende Typografie 

Inszenierende Typografie soll den Text durch seine Gestaltung steigern, interpretieren oder sogar verfremden, aber nicht dekorativ gegen die Sprache arbeiten. Diese gestalterische Inszenierung richtet sich an Leser:innen, die Spaß an Typografie haben und Anspielungen oder formale Zitate verstehen und schätzen. Manche Leser:innen sind sogar bereit, sich mit der Gestaltung soweit auseinanderzusetzen wie Theaterbesucher:innen mit der neuen Inszenierung eines Stücks. 

Fast alle Buchtypen können inszenierende typografische Elemente enthalten. Ausnahmen sind Bücher mit strikten Strukturen wie Lexika. Den typografischen Mitteln sind keine Grenzen gesetzt: ob Buchstaben, Worte, Zeilen oder die ganze Seite, alles kann von strenger bis freiester Gestaltung reichen.

Die inszenierende Typografie unterscheidet sich vom Kalligramm oder der visuellen Poesie insofern, dass bei zuletzt genannten Form und Aussage identisch ist.

Die inszenierende Typografie ist keine Dekoration: Sie unterstützt den Text, indem sie ihn inhaltlich interpretiert oder verfremdet. / Bild © Willberg und Forssman
Grenzen der Lesetypografie

Die beleuchteten Lesearten kommen in der Praxis nicht immer unabhängig voneinander vor, ganz im Gegenteil. Ein Buch wird häufig auf unterschiedliche Arten gelesen. Ein Beispiel: Man liest ein Lexikon zuerst konsultierend bis man einen Begriff gefunden hat, liest den Eintrag dann informierend (also überfliegt ihn, ob er das bietet, was man sucht), liest ihn linear Wort für Wort oder differenziert, weil seine Struktur dies erfordert. Die Typografie muss dann allen Lesearten gerecht werden. 

Lesetypografie bezieht sich immer auf Gebrauchsbücher. Es gibt auch Bücher, die nicht nur das Transportmittel für den Inhalt sind, sondern auch andere Anforderungen erfüllen müssen. Diese Bücher kann man nicht oder nur teilweise anhand der Systematik von Willberg und Forssman gestalten. Zu solchen Werken zählen, zum Beispiel, Künstler-Bücher, bei denen sich Form, Inhalt und Material verbinden und die als typografisches Experiment funktionieren. Auch visuelle Poesie, bei denen die Typografie Teil der Aussage ist oder typografische Arbeiten, bei denen der Inhalt zweitrangig ist gehören zu diesen Büchern. Auch Typografie für Webseiten muss nochmals besondere Ansprüche erfüllen. Einerseits kommen hier viele unterschiedliche Lesearten zum Einsatz, andererseits auch andere Typografiearten ins Spiel. Anhand der Navigation muss man sich orientieren können, einige Teile der Webseite sollen im Sinne der Dekorationstypografie vielleicht einfach „nur“ gefallen oder im Sinne der Werbetypografie Aufmerksamkeit erregen. Und auch die von Willberg und Forssman betitelte „Designtypografie“ kann bewusstes Mittel zum Zweck sein, um sich avantgardistisch oder fortschrittlich zu zeigen. 

Wichtig ist auch, dass die vorgestellten Lesearten und die damit einhergehenden typografischen Regeln nicht statisch sind. Verändert sich die Gesellschaft, verändern sich auch Lesegewohnheiten. Wie liest man etwa auf Instagram oder Facebook? Auch innerhalb der Buchtypografie gibt es einen steten Wandel. Schulbücher sollen eine Einladung zum Lernen sein und unterhalten, Romane werden zum Teil inszeniert und auch wissenschaftliche Bücher sind heute definitiv „lockerer“ gestaltet als vor einigen Jahren. Willberg und Forssman argumentieren jedoch, dass diese Veränderungen neben allen Regeln existieren können. Denn einer Frage muss die Typografie immer bestehen können: Funktioniert sie als typografisches Transportmittel für die Anforderung an den Text? Um diese Frage schlussendlich bejahen zu können, ist die Systematik der Lesearten sehr hilfreich. Steht man am Beginn eines typografischen Projektes, bei dem ein Lesetext gesetzt werden soll, müssen sich Gestalter:innen fragen: Was will der Text eigentlich machen? Eine Antwort lässt sich leichter anhand der unterschiedlichen Lesearten finden – und dann ist man der typografischen Lösung schon ein großes Stück näher. 


Literatur

Willberg, Hans Peter und Forssman, Friedrich. Lesetypografie. Mainz: Hermann Schmidt, 2010. 

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