Schrift als Bedeutungsträger

Typografie ist mehr als das simple Darstellen von Texten, weshalb Schriften nicht alleine aus einem ästhetischen Bestreben heraus entstehen sollten. Jede Schrift sollte einen Charakter haben, der nicht versucht nachzuahmen was bereits existiert, sondern einen Mehrwert im bereits existierenden Schriftenpool darstellen. Schriftwahl und typografischer Satz unterstreichen die Botschaft eines Textes oder – falls gewollt – stellen diese auf die Probe. Ein Type Designer, dessen Schriften stark politisch aufgeladen sind, ist Tré Seals. Durch seine Arbeit wurde mir als Grafikerin klar, wie uniform viele der heutigen Designs sind und wie viel Typografie, die bewusst historisch, politisch oder gesellschaftskritisch aufgeladen ist, bewirken kann. Schrift ist ein Bedeutungsträger, der Leser:innen auf Unbedachtes oder Unbeachtetes aufmerksam machen kann. Es gibt wohl zu viele Schriften, die nur gefallen wollen oder sich zum Verwechseln ähnlich sehen – und eben wesentlich zu wenige, die eine Form-inhärente Botschaft tragen und sich dadurch von der Masse abheben. 

Inwiefern Schriften selbst zum Bedeutungsträger werden können, möchte ich anhand der Arbeiten des zuvor erwähnten Type Designers Tré Seals in diesem Blogbeitrag beleuchten. 

Seals Weg zu politischer Schriftgestaltung

Tré Seals ist Afro-Amerikaner, lebt und arbeitet in den Vereinigten Staaten. Er absolvierte sein Kommunikationdesignstudium 2015 und gründete ein Branding-Studio. Im Sommer 2016 war er auf der Suche nach Inspiration für ein Projekt. Dabei fiel ihm auf, dass viele Arbeiten sehr ähnlich aussahen. Kurz darauf fiel ihm eine Tabelle des U.S. Bureau of Labor Statistics zur Demografie in der Designbranche in die Hände. Diese besagte, dass nur 3 bis 3,5 Prozent der Designer:innen in Amerika schwarz waren und rund 85 Prozent weiß. Darin lag für Tré Seals der Grund in der Uniformität vieler Webseiten. Auf seiner eigenen Webseite schreibt Seals dazu: »Until recently, the majority of all designers in America were men. So if you’re a woman or if you’re of African, Asian, or Latin dissent, and you see an advertisement that you feel does not accurately represent your race, ethnicity, and/or gender, this is why.«

Seals argumentiert weiter, dass es in einer Branche, die von einer einzigen Sichtweise – nämlich einer männlich-weißen – geprägt ist, auch nur eine Art des Denkens, Lehrens und Schaffens geben kann. Ein Mangel an Vielfalt in Rasse, ethnischer Zugehörigkeit und Geschlecht führt zu einem Mangel an Vielfalt in Systemen, in Ideen und Kreativität. 

So beschloss Seals, einen Weg zu finden, um die Vielfalt und Empathie in der Designbranche zu erhöhen. Er war sich bewusst, dass er die Demografie oder das Bildungssystem nicht ändern konnte. So fand er einen Weg, ein nicht-stereotypisiertes Stück Minderheitskultur selbst in das Design einzubringen. Er setzte dabei bei der Typografie an – ihm zufolge die Basis jedes guten Designs – und gründete seine Type Foundry Vocal Type. Mit den entstehenden Schriften möchte Seals ein Zeichen für mehr Vielfalt im Design setzen und Bewusstsein für Minderheiten in den Vereinigten Staaten schaffen, die durch die vorherrschende Designszene unterrepräsentiert sind. 

Die Entwicklung der Schrift Du Bois

Als Tré Seals das erste Mal Rassismus erlebte, begann er sich mit der Geschichte der Afro-Amerikaner:innen auseinanderzusetzen. Im Zuge seiner Recherche stieß er auf den afro-amerikanischen Bürgerrechtler und ersten schwarzen Harvard-Doktoranden William Edward Burghardt Du Bois, der von 1886 bis 1963 lebte. Für die Weltausstellung 1900 in Paris hatte Du Bois Infografiken gezeichnet, die den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt der Afro-Amerikaner:innen seit dem Ende der Sklaverei 1865 visualisierten. Zugleich zeigten die Grafiken auch den systematischen Rassismus, den Schwarze seitdem erleb(t)en. Tré Seals war sehr beeindruckt von diesen Infografiken, auf deren Basis er eine Schrift entwickeln wollte. Diese Schrift sollte das Bewusstsein für die Geschichte der Afro-Amerikaner:innen in sich tragen.

Er analysierte zunächst die handgeschriebenen Buchstaben in den Grafiken von Du Bois, die eine starke Kohärenz aufwiesen. Er fertigte Skizzen mit Bleistift und Kugelschreiber an und importierte sie in den Fonteditor Glyphs. Dort zeichnete er die Buchstaben nach. Er fertigte unzählige Varianten der Buchstaben an, um schlussendlich jene Formen zu finden, die nahe am Original waren und zugleich als moderne Schrift funktionierten. Neben einigen Lettern, die sehr viel Zeit in Anspruch nahmen wie das Ampersand oder das Prozent-Zeichen, musste Seals auch viele Buchstaben völlig selbst zeichnen, da sie in den Grafiken der Weltausstellung nicht vorkamen – u.a. alle Kleinbuchstaben sowie mathematische Zeichen. Aus den Buchstaben, die der Bürgerrechtler Du Bois vor circa 120 Jahren von Hand schrieb, ließ der 27-jährige Schriftgestalter schlussendlich eine streng geometrische Sans-Serif entstehen. Zusätzlich fertigte er elf Style-Sets mit Formenvarianten an, durch die einzelne Lettern sehr unterschiedlich aussehen können: mit Art Déco-Touch oder als Slab Serif. Die Schrift Du Bois mag nicht die All-time-Variante werden, auf die Grafiker:innen im Zweifelsfall gerne zurückgreifen, doch eben darum ging es Seals eigentlich auch – endlich eine Schrift, die nicht wie alle anderen, sicheren Varianten aussah. Denn eines ist Du Bois gewiss: eine Schrift, die sich durch ihre starke Symbolik von der Masse abhebt und beweist, wie viel Verantwortung und Möglichkeit im Schriftdesign stecken.

Von Bürgerrechtsbewegung bis Gay Pride: Die Vielfalt von Vocal Type

Elf Schriften hat Tré Seals Vocal Type derzeit im Programm. Alle Schriften weisen eine Verbindung zu Minderheiten und ihren Geschichten auf: von der Bürgerrechtsbewegung in den USA über die weltweite Frauenwahlrechtsbewegung bis hin zu den Stonewall-Unruhen 1969, die als Beginn der Gay Pride Bewegung gelten oder einer eigenen Schrift für ein Buch des schwarzen Filmemachers und Schauspielers Spike Lee.

Wichtig ist Tré Seals, dass seine Schriften jedoch nicht nur für politische Botschaften eingesetzt werden – vielmehr sollen sie in die Alltagsanwendung von Typografie Eingang finden, um so für mehr Vielfalt und Bewusstsein zu sorgen. So soll Du Bois, zum Beispiel, die ja von einem schwarzen Bürgerrechtler inspiriert ist, in Projekten mit völlig anderem Hintergrund wie dem Corporate Design eines Restaurants oder Modegeschäfts angewendet werden. So bestünde die Möglichkeit, so Seals, dass die Geschichte der Schrift von Leuten wahrgenommen wird, die sich ansonsten niemals damit beschäftigt hätten. Abschließen möchte ich diesen Beitrag mit Tré Seals Appell an alle Kreativen im Manifesto von Vocal Type

This is a type foundry for creatives of color who feel that they don’t have a say in their industry. This is for creative women who feel that they don’t have a say in their industry. This is for the creative that is tired of being “inspired” by the same designs over and over again. Vocal is for the creative that cares about telling the stories of the people we serve and not the false history of the industry we work in. Vocal is for the creative that wants to build a community—not a following.

Tré Seals, Type Designer und Gründer von Vocal Type

Literatur

Dohmann, Antje. „Type that matters“, in Günder, Gabriele (Hrsg.), Page 03.21.

Seals, Tré. Manifesto [online]. Vocal Type. [Letzer Zugriff am 2022-03-08]. Verfügbar über: https://www.vocaltype.co/manifesto

Seals, Tré. Story of [online]. Vocal Type. [Letzer Zugriff am 2022-03-08]. Verfügbar über: https://www.vocaltype.co/story-of

Seals, Tré. Typeface [online]. Vocal Type. [Letzer Zugriff am 2022-03-08]. Verfügbar über: https://www.vocaltype.co/typefaces

Fotocredits

Abbildungen der Schriften und Porträtfoto: (c) Tré Seals

Protestmarsch zu Ehren Martin Luther King: (c) Robert Abbott Sengstacke/Getty Images

Protestmarsch für das Frauenwahlrecht: (c) Photo by Bettmann/Getty Images

Info-Grafiken von W.E.B. Du Bois: (c) Library of Congress / der Website von Tré Seals entnommen

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