Der Versuch, die Vielfalt von Schriftarten zu überblicken
In den letzten drei Beiträgen habe ich mich eingehend mit der historischen Entwicklung der Typografie befasst – vorwiegend mit jener im deutschsprachigen Raum. Die hat deutlich gemacht: Der Stil einer Schrift kann nur schwer losgelöst von ihrem Entstehungskontext betrachtet werden. Gesellschaftliche und technologische Entwicklungen beeinflussen Grafikdesigner:innen und Typograf:innen und damit die Entstehung und den Einsatz von Schrift. Solange Lettern aus Holz geschnitten wurden, waren wirklich exakte Formen unmöglich. Mit der Erfindung der Bleilettern konnten Setzer die Haarlinien verfeinern und Serifen deutlicher herausarbeiten. Neben der Technik war und ist es auch der Zeitgeist, der das Aussehen von Schriften über die Jahrhunderte prägte und es auch heute noch tut. Didot-Schriften, zum Beispiel, zeichnen sich durch stark betonte Grundstriche und extrem feine Haarstriche aus. Sie sind elegant und spiegeln den strengen und intellektuellen, aber feinen Stil des Klassizismus mit seinen griechischen und römischen Vorbildern wider. Im Kontrast dazu wurden im 19. Jahrhundert mit der industriellen Revolution die Egyptienne-Typen (engl. Slab Serif) populär – ihre kräftigen, eckigen Serifen und robuste Form zeugen von der Kraft und Funktionalität der Maschinen (vgl. Gautier 2009:50).
Warum eine Schriftklassifikation?
Beginnt man sich näher mit Schrift und Typografie zu beschäftigen, scheint einen der Umfang dieses Themas nahezu zu erschlagen. Alleine sich in der Unendlichkeit von verfügbaren Schriften zurechtzufinden wirkt wie eine Mammutaufgabe. Angesichts dessen und wohl um das Wesen der Typografie greifbarer zu machen, haben zwei Typografen Klassifikationen erstellt, die Schriften zu Schriftarchetypen zusammenfassen: die Thibaudeau-Klassifikation und die Vox-ATypI-Klassifikation. Letztere wurde von der Association Typografique Internationale (ATypI = Internationale Gesellschaft für Typografie) übernommen. Auch die heutige Schriftklassifikation des Deutschen Instituts für Normung, der DIN 16518, ist an diese Klassifikation angelehnt. In der Folge gab es immer wieder Typografen, die sich mit der Klassifikation von Schriften auseinandersetzten – u.a. Hans Peter Willberg, der eine Weiterentwicklung der DIN-Norm vorschlug.
Von Thibaudeau zu Vox
1921 schlug Francis Thibaudeau eine Schriftklassifikation nach Serifen vor, die vier Klassen umfasst:
- Klasse 1: Elzèvirs
- Klasse 2: Didots
- Klasse 3: Égyptiennes
- Klasse 4: Serifenlose Antiqua-Schriften
Diese Klassifikation schien jedoch nicht die Vielfalt der unterschiedlichen Schriftarten abzubilden, weshalb Maximilien Vox 1952 eine Einteilung in elf Klassen vorschlug. Seine Klassifikation beruht auf Kriterien, die zumeist für eine bestimmte Epoche typisch waren: die Art der Grund- und Haarstriche, die Neigung der Buchstabenachse und die Serifenform.
Viele Schriften weisen Charakteristika aus zwei oder mehreren der nachfolgend vorgestellten Klassen auf. Aus diesem Grund halten viele Grafiker:innen eine Schriftklassifikation für umstritten oder obsolet. Für mich liegt der Vorteil in einer Klassifikation vor allem in der Möglichkeit, sich einen Überblick über die komplexe Vielfalt der Schriften verschaffen zu können. Auch wenn ich selbst im täglichen Umgang mit Typografie festgestellt habe, dass eine klare Zuordnung oft schwierig ist, empfinde ich es als Mehrwert, über die einzelnen Klassen und ihren historischen Ursprung Bescheid zu wissen. Aus diesem Grund möchte ich nun nachfolgend näher die Klassifikation der DIN-Norm 16518 sowie auch den Ansatz von H.P. Willberg vorstellen.
Schriftklassifikation nach DIN-16518
Die DIN-Norm legt elf Schriftklassen fest.
1 Venezianische Renaissance-Antiqua (Entstehung ab 1450)
Diese zeitlich erste Antiqua-Klasse zeichnet sich durch folgende Charakteristika aus:
- kräftige Serifen
- nach links geneigte Schattenachse (= Buchstabenachse)
- relativ große Ober- und Unterlängen
- schräger Innenbalken des e
2 Französische Renaissance-Antiqua (Entstehung im 16.Jhr.)
Charakteristika:
- ebenfalls nach links geneigte Schattenachse
- ausgerundete Serifen = stärkere Rundung von Grundstrich zu Serife
- teilweise waagrechter Innenbalken des e
- Oberlänge der Kleinbuchstaben meist etwas länger als Höhe der Versalien
3 Barock-Antiqua (Entstehung im Barock / ab Ende des 16.Jhr.)
Die Barock-Antiqua wird auch Übergangs-Antiqua oder vorklassizistische Antiqua genannt, da sie ein Bindeglied zwischen den Renaissance-Antiqua-Schriften und den sehr geplanten klassizistischen Antiqua-Formen bildet.
Charakteristika:
- der Kontrast zwischen Grund- und Haarstrichen verstärkt sich, da durch die Erfindung des Kupferstichs noch feinere, präzisere Formen möglich waren
- nahezu und teils vollkommen senkrechte Schattenachse
- feinere und flachere Serifen; Rundung von Serifen zu Grundstrichen nimmt ab
- waagrechter Innenbalken des e
Die Barock-Antiqua hat eigentlich kein opulent-barockes Auftreten, sondern sorgt für eine Beruhigung des Schriftbildes.
4 Klassizistische Antiqua („Didots“) (Entstehung um 1800)
Charakteristika:
- Kontrast zwischen Grund- und Haarstrichen besonders ausgeprägt: stark betonte Grundstriche und extrem feine Haarstriche
- senkrechte Schattenachse
- kaum Rundungen zwischen Serifen und Grundstrichen
- geplante und durchdachte Schriften; die Buchstabenformen lassen Vorbilder der griechischen und römischen Architektur erkennen
5 Serifenbetonte Linear-Antiqua (Slab Serif / Egyptienne) (Entstehung ab Beginn des 19. Jhr.)
Charakteristika:
- starke und auffallende Betonung der Serifen
- robuste Buchstabenformen: Grund- und Haarstriche haben nahezu dieselbe Stärke
- keine Rundungen zwischen Serifen und Grundstrichen
Slab Serif-Schriften spiegeln mit ihren auffallenden, starken Formen den Beginn des industriellen Zeitalters und die Kraft der Maschinen wider.
6 Serifenlose Linear-Antiqua (Grotesk / Sans Serif) (Entstehung ab Beginn des 19. Jhr.)
Charakteristika:
- keine Serifen
- oftmals gleichmäßige Strichstärke, d.h. wenig bis kein Kontrast zwischen Grund- und Haarstrichen
- horizontale und vertikale Geraden
Die Grotesk wurde ursprünglich als auffallende, „plakative“ Schrift für Akzidenz- und Werbezwecke entwickelt. Heute umfasst diese Klasse sehr viele unterschiedliche Schriften, was wiederum eine Unterklassifizierung erfordern würde. Einige Grotesken basieren etwa auf der klassizistischen Antiqua (z.B. Akzidenz, Univers), andere auf der Renaissance-Antiqua (z.B. Lucida-Sans, Syntax). Parallel entstand in den USA auch die Amerikanische Grotesk (z.B. Franklin Gothic). Ab dem 20. Jahrhundert entstanden die konstruierten Grotesken, die sehr geometrische Formen aufweisen (z.B. Futura).
7 Antiqua-Varianten
In diese Klasse fallen alle Antiqua-Schriften, die keiner der Strichführungen der anderen Klassen zugeordnet werden können. Sie zeichnen sich oftmals durch Charakteristika mehrerer Klassen aus oder haben bestimmte Strichführungen bzw. Besonderheiten, die Regeln bisheriger Kategorien brechen.
8 Schreibschriften (Scripts)
Charakteristika:
- miteinander verbundene Buchstaben
- grundsätzlich alle Schriften, die die Wirkung einer heutigen Schreibschrift nachahmen
Schreibschriften gab es bereits zu Bleisatz-Zeiten, jedoch wurden sie vor allem durch die Verwendung von Schriften am Computer populär, um dem digitalen Druckzeug eine handschriftliche Note zu verleihen.
9 Handschriftliche Antiqua
Diese Klasse fasst alle Schriften zusammen, die handschriftliche Züge aufweisen, jedoch keine gebundene Schrift erzeugen – also die Buchstaben sind nicht miteinander verbunden wie das bei Schreibschriften der Fall ist.
10 Gebrochene Schriften
Gebrochene Schriften zeichnen sich durch ganz oder teilweise gebrochene Bögen der Buchstaben aus, die einen abrupten Richtungswechsel in der handschriftlichen Strichführung nachahmen. Eine Besonderheit liegt zudem im langen s, das vor allem in der deutschen Sprache verwendet wurde. Gebrochene Schriften waren hauptsächlich im deutschsprachigen Raum verbreitet. In der Mitte des 12. Jahrhunderts entwickelte sich in Europa die Gotik, was sich in der Architektur durch den Übergang von romanischen Rundbögen zu gebrochenen gotischen Spitzbögen zeigte. Dieser Bruch wurde daraufhin auch in der Minuskel-Buchschrift imitiert. Dadurch entstand aus der runden karolingischen Minuskel die gebrochene gotische Minuskel.
Von der DIN-Norm werde gebrochene Schriften in fünf Unterkategorien unterteilt:
- Gotisch (Textura) – ursprünglich eine Buchschrift für Manuskripte, später eine Satzschrift
- Rotunda (Rundgotisch) – ebenso zuerst eine Buchschrift für Manuskripte, später eine Satzschrift
- Schwabacher – Satzschrift
- Fraktur – Satzschrift
- Fraktur-Varianten – Satzschrift(en)
Durch den Normalschrifterlass 1941 wurden die gebrochenen Schriften aus den Lehrplänen und dem offiziellen Schriftgebrauch verbannt.
11 Nichtlateinische (fremde) Schriften
Fremde Schriften sind nach der deutschen DIN-Norm jene, die sich nicht des lateinischen Alphabets bedienen. Beispiele: Chinesisch, Koreanisch, Kyrillisch, Arabisch, Griechisch, Hebräisch
Diesen elf Klassen fügen Damien und Claire Gautier auch noch die Klassen der Fantasieschriften und der wandlungsfähigen Schriften hinzu. Zu Fantasieschriften zählen Gaultier alle Schriften, die sehr unterschiedliche, teilweise extreme Charakteristika aufweisen. Oft entstehen Fantasieschriften aus technischen Experimenten und sind vor allem für den Einsatz als Headlines oder plakative Texte gedacht. Als „wandlungsfähig“ bezeichnen sie Schriften, die auf Basis derselben Grundform gezeichnet wurden, aber verschiedenen Klassen zugeordnet werden können – also Schriften, die es als Antiqua- und Grotesk-Variante gibt, aber auch Sans Serif-Schriften, deren Strichstärken einmal gleichbleibend und ein andermal mit Kontrast auftreten (vgl. Gaultier 2009:51). Da sich die Buchstabenformen in der Regel einer der bereits genannten Klassen zuordnen lassen, stellen Monospace-Schriften keine eigene Klasse dar. Ich möchte sie aus Gründen der Vollständigkeit trotzdem an diesem Punkt erwähnen, da sie eine besondere Form aller zuvor genannten Schriften bilden: Bei Monospace-Schriften haben, wie ihr Name schon sagt, alle Zeichen exakt dieselbe Dickte. Ob H oder i, ob W oder Komma – die Breite des Zeichens ist immer dieselbe. Aus diesem Grund muten Monospate-Schriften an, als wären sie von einer Schreibmaschine getippt worden.
Kritik an der Schriftklassifikation der DIN-Norm 16518
Wie bereits erwähnt lassen sich heute viele Schriften nicht mehr eindeutig dieser historisch bedingten Klassifizierung zuordnen. Daniel Perraudin, Typograf, Grafiker und Lehrender, gibt in seiner Typografie-Vorlesung an der Fachhochschule Joanneum an, dass circa neunzig Prozent der neuentwickelten Schriften der Klasse der Grotesk zugeordnet werden müssten – obwohl sie sich in ihrem Erscheinungsbild durchaus unterscheiden.
Schriftklassifikation nach Hans Peter Willberg
H.P. Willberg war ein deutscher Typograf, Grafiker, Illustrator sowie Hochschullehrer. Sein Gestaltungsansatz prägt bis heute die grafische Schule – besonders auch die Typografie. Auch ihm schien die Schriftklassifikation nach Vox bzw. die daraus resultierende DIN-Norm als mangelhaft, weshalb er sie um eine Dimension zu erweitern versuchte. Die Form der Buchstaben, die die Grundlage für die DIN-Einteilung bildet, ergänzt er um die Dimension des Stils. Dieser kann nach Willberg dynamisch, statisch, geometrisch, dekorativ oder provozierend sein.
Kritik an Willbergs Schriftklassifikation
Jedoch kann auch an Willbergs Klassifizierung Kritik geübt werden: Ob eine Schrift „dekorativ“ oder gar „provozierend“ sei, liegt stark im Auge des Betrachters, was eine objektive Zuordnung eigentlich nicht zulässt. Zudem scheint es gerade bei Scripts, also Schreibschriften, besonders schwierig einen eindeutigen Stil zu identifizieren.
Summa summarum
Nach eingehender Betrachtung der zuvor beschriebenen Schriftklassifikationen möchte ich nochmals festhalten: Auch wenn nicht alle und vor allem nicht neu entwickelte Schriften gänzlich einer Klasse zugeordnet werden können, bieten die vorgestellten Klassifikationen die Möglichkeit, sich in der Vielfalt an Schriften zurechtfinden und eine vorliegende Schrift auf ihr Wesen zu prüfen. Als Grafiker:innen sind wir häufig gefordert, eine oder mehrere Schriften für ein Projekt auszuwählen. Sowohl zu wissen, welchen Hintergrund eine Schrift hat und in welchem Kontext ihr Archetyp entstanden ist als auch das Bewusstsein dafür, aus welchen Gruppen überhaupt zu wählen ist, gibt (zumindest mir) ein Gefühl von Kontrolle in diesem Entscheidungsprozess. Obwohl die Typografie nicht ohne Bauchgefühl, ohne ästhetischem Auge und schon gar nicht ohne Erfahrung auskommt, muss auch die Ratio eine Rolle spielen. Die Wahl einer Schrift auch objektiv argumentieren zu können, ist essentiell. Für diese Objektivität zählen neben Lesbarkeit auch Geschichte und Stil eine Rolle: Type Designer Tré Seals ist überzeugt, dass Schriften Geschichten erzählt – viele auch politische. 2015 stellte der Amerikaner mit afroamerikanischen Wurzeln fest, dass nur circa drei Prozent der amerikanischen Designer:innen schwarz und 85 Prozent weiß waren. Diese Mehrheit war bis vor nicht allzu langer Zeit auch vorwiegend männlich, so Seals. Darin lag für ihn der Grund für die Uniformität von Webseiten – alles sah (und sieht heute noch) typografisch gleich aus. Auf seiner Webseite schreibt er: „If you’re a woman or if you’re of African, Asian, or Latin dissent, and you see an advertisement that you feel does not accurately represent your race, ethnicity, and/or gender, this is why.“ So gründete Seals seine Type Foundry Vocal Type, die mittlerweile acht Schriften im Programm hat. Alle sind mit der Geschichte von Minderheiten verknüpft – zum Beispiel, mit der Bürgerrechtsbewegung in den USA, mit der Frauenwahlrechtsbewegung oder mit den Stonewall-Unruhen, der Geburtsstunde des Gay Pride (vgl. Dohmann 2021: 68). Seals Arbeiten sind ein Beispiel dafür, dass Schriften nicht nur elegant oder witzig, minimalistisch oder opulent, sondern auch gesellschaftskritisch und (sozio-)politisch sein können. Als Grafiker:innen, die mit ihrer Gestaltung Haltung und Verantwortung zeigen wollen, sollen wir uns dessen immer bewusst sein.
Literatur
Dohman, Antje. „Types that matter“, in Günder, Gariele (Hrsg.), Page 03.21.
Gaultier, Damien und Claire. Gestaltung, Typografie etc. Ein Handbuch. Salenstein: Niggli, 2009.
Perraudin, Daniel. Klassifikationen – Typografie 1 [Vorlesungsunterlagen]. Verfügbar über: auf Anfrage.
Seals, Tré. Manifesto [online]. Vocal Type. [Letzter Zugriff 2022-01-22] Verfügbar über: https://www.vocaltype.co/manifesto
Wikipedia. DIN 16518 [online]. Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. [Letzter Zugriff 2022-01-22] Verfügbar über: https://de.wikipedia.org/wiki/DIN_16518
Bildnachweise
Beispiel „Bembo“ via typelexikon.de: https://www.typolexikon.de/manutius-aldus/bembo/
Schriftklassifikation nach H.P. Willberg – © Daniel Perraudin, aus den Vorlesungsfolien der LV Typografie 1 an der FH Joanneum
Alle anderen Bilder © Karin Schmerda