Typografie – Schriftklassifikation(en)

Der Versuch, die Vielfalt von Schriftarten zu überblicken 

In den letzten drei Beiträgen habe ich mich eingehend mit der historischen Entwicklung der Typografie befasst – vorwiegend mit jener im deutschsprachigen Raum. Die hat deutlich gemacht: Der Stil einer Schrift kann nur schwer losgelöst von ihrem Entstehungskontext betrachtet werden. Gesellschaftliche und technologische Entwicklungen beeinflussen Grafikdesigner:innen und Typograf:innen und damit die Entstehung und den Einsatz von Schrift. Solange Lettern aus Holz geschnitten wurden, waren wirklich exakte Formen unmöglich. Mit der Erfindung der Bleilettern konnten Setzer die Haarlinien verfeinern und Serifen deutlicher herausarbeiten. Neben der Technik war und ist es auch der Zeitgeist, der das Aussehen von Schriften über die Jahrhunderte prägte und es auch heute noch tut. Didot-Schriften, zum Beispiel, zeichnen sich durch stark betonte Grundstriche und extrem feine Haarstriche aus. Sie sind elegant und spiegeln den strengen und intellektuellen, aber feinen Stil des Klassizismus mit seinen griechischen und römischen Vorbildern wider. Im Kontrast dazu wurden im 19. Jahrhundert mit der industriellen Revolution die Egyptienne-Typen (engl. Slab Serif) populär – ihre kräftigen, eckigen Serifen und robuste Form zeugen von der Kraft und Funktionalität der Maschinen (vgl. Gautier 2009:50). 

Warum eine Schriftklassifikation? 

Beginnt man sich näher mit Schrift und Typografie zu beschäftigen, scheint einen der Umfang dieses Themas nahezu zu erschlagen. Alleine sich in der Unendlichkeit von verfügbaren Schriften zurechtzufinden wirkt wie eine Mammutaufgabe. Angesichts dessen und wohl um das Wesen der Typografie greifbarer zu machen, haben zwei Typografen Klassifikationen erstellt, die Schriften zu Schriftarchetypen zusammenfassen: die Thibaudeau-Klassifikation und die Vox-ATypI-Klassifikation. Letztere wurde von der  Association Typografique Internationale (ATypI = Internationale Gesellschaft für Typografie) übernommen. Auch die heutige Schriftklassifikation des Deutschen Instituts für Normung, der DIN 16518, ist an diese Klassifikation angelehnt. In der Folge gab es immer wieder Typografen, die sich mit der Klassifikation von Schriften auseinandersetzten –  u.a. Hans Peter Willberg, der eine Weiterentwicklung der DIN-Norm vorschlug.  

Von Thibaudeau zu Vox

1921 schlug Francis Thibaudeau eine Schriftklassifikation nach Serifen vor, die vier Klassen umfasst: 

  • Klasse 1: Elzèvirs 
  • Klasse 2: Didots
  • Klasse 3: Égyptiennes
  • Klasse 4: Serifenlose Antiqua-Schriften

Diese Klassifikation schien jedoch nicht die Vielfalt der unterschiedlichen Schriftarten abzubilden, weshalb Maximilien Vox 1952 eine Einteilung in elf Klassen vorschlug. Seine Klassifikation beruht auf Kriterien, die zumeist für eine bestimmte Epoche typisch waren: die Art der Grund- und Haarstriche, die Neigung der Buchstabenachse und die Serifenform.

Viele Schriften weisen Charakteristika aus zwei oder mehreren der nachfolgend vorgestellten Klassen auf. Aus diesem Grund halten viele Grafiker:innen eine Schriftklassifikation für umstritten oder obsolet. Für mich liegt der Vorteil in einer Klassifikation vor allem in der Möglichkeit, sich einen Überblick über die komplexe Vielfalt der Schriften verschaffen zu können. Auch wenn ich selbst im täglichen Umgang mit Typografie festgestellt habe, dass eine klare Zuordnung oft schwierig ist, empfinde ich es als Mehrwert, über die einzelnen Klassen und ihren historischen Ursprung Bescheid zu wissen. Aus diesem Grund möchte ich nun nachfolgend näher die Klassifikation der DIN-Norm 16518 sowie auch den Ansatz von H.P. Willberg vorstellen.  

Schriftklassifikation nach DIN-16518 

Die DIN-Norm legt elf Schriftklassen fest. 

1 Venezianische Renaissance-Antiqua (Entstehung ab 1450) 

Diese zeitlich erste Antiqua-Klasse zeichnet sich durch folgende Charakteristika aus: 

  • kräftige Serifen
  • nach links geneigte Schattenachse (= Buchstabenachse) 
  • relativ große Ober- und Unterlängen 
  • schräger Innenbalken des e 

2 Französische Renaissance-Antiqua (Entstehung im 16.Jhr.)  

Charakteristika:

  • ebenfalls nach links geneigte Schattenachse
  • ausgerundete Serifen = stärkere Rundung von Grundstrich zu Serife 
  • teilweise waagrechter Innenbalken des e
  • Oberlänge der Kleinbuchstaben meist etwas länger als Höhe der Versalien

3 Barock-Antiqua (Entstehung im Barock / ab Ende des 16.Jhr.) 

Die Barock-Antiqua wird auch Übergangs-Antiqua oder vorklassizistische Antiqua genannt, da sie ein Bindeglied zwischen den Renaissance-Antiqua-Schriften und den sehr geplanten klassizistischen Antiqua-Formen bildet. 

Charakteristika:

  • der Kontrast zwischen Grund- und Haarstrichen verstärkt sich, da durch die Erfindung des Kupferstichs noch feinere, präzisere Formen möglich waren 
  • nahezu und teils vollkommen senkrechte Schattenachse
  • feinere und flachere Serifen; Rundung von Serifen zu Grundstrichen nimmt ab
  • waagrechter Innenbalken des e

Die Barock-Antiqua hat eigentlich kein opulent-barockes Auftreten, sondern sorgt für eine Beruhigung des Schriftbildes. 

4 Klassizistische Antiqua („Didots“) (Entstehung um 1800) 

Charakteristika:

  • Kontrast zwischen Grund- und Haarstrichen besonders ausgeprägt: stark betonte Grundstriche und extrem feine Haarstriche
  • senkrechte Schattenachse
  • kaum Rundungen zwischen Serifen und Grundstrichen 
  • geplante und durchdachte Schriften; die Buchstabenformen lassen Vorbilder der griechischen und römischen Architektur erkennen 

5 Serifenbetonte Linear-Antiqua (Slab Serif / Egyptienne) (Entstehung ab Beginn des 19. Jhr.) 

Charakteristika: 

  • starke und auffallende Betonung der Serifen
  • robuste Buchstabenformen: Grund- und Haarstriche haben nahezu dieselbe Stärke
  • keine Rundungen zwischen Serifen und Grundstrichen 

Slab Serif-Schriften spiegeln mit ihren auffallenden, starken Formen den Beginn des industriellen Zeitalters und die Kraft der Maschinen wider.  

6 Serifenlose Linear-Antiqua (Grotesk / Sans Serif) (Entstehung ab Beginn des 19. Jhr.)

Charakteristika: 

  • keine Serifen
  • oftmals gleichmäßige Strichstärke, d.h. wenig bis kein Kontrast zwischen Grund- und Haarstrichen
  • horizontale und vertikale Geraden 

Die Grotesk wurde ursprünglich als auffallende, „plakative“ Schrift für Akzidenz- und Werbezwecke entwickelt. Heute umfasst diese Klasse sehr viele unterschiedliche Schriften, was wiederum eine Unterklassifizierung erfordern würde. Einige Grotesken basieren etwa auf der klassizistischen Antiqua (z.B. Akzidenz, Univers), andere auf der Renaissance-Antiqua (z.B. Lucida-Sans, Syntax). Parallel entstand in den USA auch die Amerikanische Grotesk (z.B. Franklin Gothic). Ab dem 20. Jahrhundert entstanden die konstruierten Grotesken, die sehr geometrische Formen aufweisen (z.B. Futura).

7 Antiqua-Varianten

In diese Klasse fallen alle Antiqua-Schriften, die keiner der Strichführungen der anderen Klassen zugeordnet werden können. Sie zeichnen sich oftmals durch Charakteristika mehrerer Klassen aus oder haben bestimmte Strichführungen bzw. Besonderheiten, die Regeln bisheriger Kategorien brechen.

8 Schreibschriften (Scripts)

Charakteristika:

  • miteinander verbundene Buchstaben
  • grundsätzlich alle Schriften, die die Wirkung einer heutigen Schreibschrift nachahmen

Schreibschriften gab es bereits zu Bleisatz-Zeiten, jedoch wurden sie vor allem durch die Verwendung von Schriften am Computer populär, um dem digitalen Druckzeug eine handschriftliche Note zu verleihen. 

9 Handschriftliche Antiqua 

Diese Klasse fasst alle Schriften zusammen, die handschriftliche Züge aufweisen, jedoch keine gebundene Schrift erzeugen – also die Buchstaben sind nicht miteinander verbunden wie das bei Schreibschriften der Fall ist. 

10 Gebrochene Schriften 

Gebrochene Schriften zeichnen sich durch ganz oder teilweise gebrochene Bögen der Buchstaben aus, die einen abrupten Richtungswechsel in der handschriftlichen Strichführung nachahmen. Eine Besonderheit liegt zudem im langen s, das vor allem in der deutschen Sprache verwendet wurde. Gebrochene Schriften waren hauptsächlich im deutschsprachigen Raum verbreitet. In der Mitte des 12. Jahrhunderts entwickelte sich in Europa die Gotik, was sich in der Architektur durch den Übergang von romanischen Rundbögen zu gebrochenen gotischen Spitzbögen zeigte. Dieser Bruch wurde daraufhin auch in der Minuskel-Buchschrift imitiert. Dadurch entstand aus der runden karolingischen Minuskel die gebrochene gotische Minuskel.  

Von der DIN-Norm werde gebrochene Schriften in fünf Unterkategorien unterteilt: 

  • Gotisch (Textura) – ursprünglich eine Buchschrift für Manuskripte, später eine Satzschrift 
  • Rotunda (Rundgotisch) – ebenso zuerst eine Buchschrift für Manuskripte, später eine Satzschrift
  • Schwabacher – Satzschrift 
  • Fraktur – Satzschrift 
  • Fraktur-Varianten – Satzschrift(en) 

Durch den Normalschrifterlass 1941 wurden die gebrochenen Schriften aus den Lehrplänen und dem offiziellen Schriftgebrauch verbannt. 

11 Nichtlateinische (fremde) Schriften 

Fremde Schriften sind nach der deutschen DIN-Norm jene, die sich nicht des lateinischen Alphabets bedienen. Beispiele: Chinesisch, Koreanisch, Kyrillisch, Arabisch, Griechisch, Hebräisch 

Diesen elf Klassen fügen Damien und Claire Gautier auch noch die Klassen der Fantasieschriften und der wandlungsfähigen Schriften hinzu. Zu Fantasieschriften zählen Gaultier alle Schriften, die sehr unterschiedliche, teilweise extreme Charakteristika aufweisen. Oft entstehen Fantasieschriften aus technischen Experimenten und sind vor allem für den Einsatz als Headlines oder plakative Texte gedacht. Als „wandlungsfähig“ bezeichnen sie Schriften, die auf Basis derselben Grundform gezeichnet wurden, aber verschiedenen Klassen zugeordnet werden können – also Schriften, die es als Antiqua- und Grotesk-Variante gibt, aber auch Sans Serif-Schriften, deren Strichstärken einmal gleichbleibend und ein andermal mit Kontrast auftreten (vgl. Gaultier 2009:51). Da sich die Buchstabenformen in der Regel einer der bereits genannten Klassen zuordnen lassen, stellen Monospace-Schriften keine eigene Klasse dar. Ich möchte sie aus Gründen der Vollständigkeit trotzdem an diesem Punkt erwähnen, da sie eine besondere Form aller zuvor genannten Schriften bilden: Bei Monospace-Schriften haben, wie ihr Name schon sagt, alle Zeichen exakt dieselbe Dickte. Ob H oder i, ob W oder Komma – die Breite des Zeichens ist immer dieselbe. Aus diesem Grund muten Monospate-Schriften an, als wären sie von einer Schreibmaschine getippt worden.

Kritik an der Schriftklassifikation der DIN-Norm 16518 

Wie bereits erwähnt lassen sich heute viele Schriften nicht mehr eindeutig dieser historisch bedingten Klassifizierung zuordnen. Daniel Perraudin, Typograf, Grafiker und Lehrender, gibt in seiner Typografie-Vorlesung an der Fachhochschule Joanneum an, dass circa neunzig Prozent der neuentwickelten Schriften der Klasse der Grotesk zugeordnet werden müssten – obwohl sie sich in ihrem Erscheinungsbild durchaus unterscheiden. 

Schriftklassifikation nach Hans Peter Willberg

H.P. Willberg war ein deutscher Typograf, Grafiker, Illustrator sowie Hochschullehrer. Sein Gestaltungsansatz prägt bis heute die grafische Schule – besonders auch die Typografie. Auch ihm schien die Schriftklassifikation nach Vox bzw. die daraus resultierende DIN-Norm als mangelhaft, weshalb er sie um eine Dimension zu erweitern versuchte. Die Form der Buchstaben, die die Grundlage für die DIN-Einteilung bildet, ergänzt er um die Dimension des Stils. Dieser kann nach Willberg dynamisch, statisch, geometrisch, dekorativ oder provozierend sein. 

Die Schriftklassifikation nach H.P. Willberg ergänzt die Buchstabenform um die Dimension des Stils.
Bild (c) Daniel Perraudin

Kritik an Willbergs Schriftklassifikation

Jedoch kann auch an Willbergs Klassifizierung Kritik geübt werden: Ob eine Schrift „dekorativ“ oder gar „provozierend“ sei, liegt stark im Auge des Betrachters, was eine objektive Zuordnung eigentlich nicht zulässt. Zudem scheint es gerade bei Scripts, also Schreibschriften, besonders schwierig einen eindeutigen Stil zu identifizieren.  

Summa summarum

Nach eingehender Betrachtung der zuvor beschriebenen Schriftklassifikationen möchte ich nochmals festhalten: Auch wenn nicht alle und vor allem nicht neu entwickelte Schriften gänzlich einer Klasse zugeordnet werden können, bieten die vorgestellten Klassifikationen die Möglichkeit, sich in der Vielfalt an Schriften zurechtfinden und eine vorliegende Schrift auf ihr Wesen zu prüfen. Als Grafiker:innen sind wir häufig gefordert, eine oder mehrere Schriften für ein Projekt auszuwählen. Sowohl zu wissen, welchen Hintergrund eine Schrift hat und in welchem Kontext ihr Archetyp entstanden ist als auch das Bewusstsein dafür, aus welchen Gruppen überhaupt zu wählen ist, gibt (zumindest mir) ein Gefühl von Kontrolle in diesem Entscheidungsprozess. Obwohl die Typografie nicht ohne Bauchgefühl, ohne ästhetischem Auge und schon gar nicht ohne Erfahrung auskommt, muss auch die Ratio eine Rolle spielen. Die Wahl einer Schrift auch objektiv argumentieren zu können, ist essentiell. Für diese Objektivität zählen neben Lesbarkeit auch Geschichte und Stil eine Rolle: Type Designer Tré Seals ist überzeugt, dass Schriften Geschichten erzählt – viele auch politische. 2015 stellte der Amerikaner mit afroamerikanischen Wurzeln fest, dass nur circa drei Prozent der amerikanischen Designer:innen schwarz und 85 Prozent weiß waren. Diese Mehrheit war bis vor nicht allzu langer Zeit auch vorwiegend männlich, so Seals. Darin lag für ihn der Grund für die Uniformität von Webseiten – alles sah (und sieht heute noch) typografisch gleich aus. Auf seiner Webseite schreibt er: „If you’re a woman or if you’re of African, Asian, or Latin dissent, and you see an advertisement that you feel does not accurately represent your race, ethnicity, and/or gender, this is why.“ So gründete Seals seine Type Foundry Vocal Type, die mittlerweile acht Schriften im Programm hat. Alle sind mit der Geschichte von Minderheiten verknüpft – zum Beispiel, mit der Bürgerrechtsbewegung in den USA, mit der Frauenwahlrechtsbewegung oder mit den Stonewall-Unruhen, der Geburtsstunde des Gay Pride (vgl. Dohmann 2021: 68). Seals Arbeiten sind ein Beispiel dafür, dass Schriften nicht nur elegant oder witzig, minimalistisch oder opulent, sondern auch gesellschaftskritisch und (sozio-)politisch sein können. Als Grafiker:innen, die mit ihrer Gestaltung Haltung und Verantwortung zeigen wollen, sollen wir uns dessen immer bewusst sein.


Literatur

Dohman, Antje. „Types that matter“, in Günder, Gariele (Hrsg.), Page 03.21. 

Gaultier, Damien und Claire. Gestaltung, Typografie etc. Ein Handbuch. Salenstein: Niggli, 2009.

Perraudin, Daniel. Klassifikationen – Typografie 1 [Vorlesungsunterlagen]. Verfügbar über: auf Anfrage. 

Seals, Tré. Manifesto [online]. Vocal Type. [Letzter Zugriff 2022-01-22] Verfügbar über: https://www.vocaltype.co/manifesto

Wikipedia. DIN 16518 [online]. Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. [Letzter Zugriff 2022-01-22] Verfügbar über: https://de.wikipedia.org/wiki/DIN_16518

Bildnachweise

Beispiel „Bembo“ via typelexikon.de: https://www.typolexikon.de/manutius-aldus/bembo/

Schriftklassifikation nach H.P. Willberg – © Daniel Perraudin, aus den Vorlesungsfolien der LV Typografie 1 an der FH Joanneum 

Alle anderen Bilder © Karin Schmerda

Typografie – Geschichte 02

Von der Industrialisierung bis zur Neuen Typografie

Maschinen-Typo: Die Industrialisierung kehrt ein

Vom 18. bis ins 20. Jahrhundert hat sich in der Typografie sehr viel bewegt. Dazu trug zunächst einerseits die industrielle Revolution bei, die die industrielle Fertigung auch in der Buchdruckerkunst einführte. Andererseits kam neben dem Werk- und Zeitungsdruck die Reklame in Schwung. In allen Bereichen musste rasch und auflagenstark gedruckt werden, was vor allem beim Zeitungsdruck zur Einführung der Rotationsdpresse führte. Die erste Variante einer solchen Druckmaschine wurde 1873 auf der Weltausstellung von der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg, der späteren MAN AG, vorgestellt. 1886 erfand der deutsch-amerikanische Ottmar Mergenthaler die Zeilensetzmaschine Linotype, die die Mechanisierung weiter in die Werkstätten der Setzer vordringen ließ. Davor waren die einzelnen Lettern und Ausschussstücke per Hand zu Zeilen zusammengesetzt worden. In den vorhergehenden Jahrhunderten hatten kleine Druckereien alle Arbeitsschritte der Drucksachenherstellung – vom Stempelschnitt bis zum fertigen Produkt – selbst übernommen. Um 1900 begann die industrielle Arbeitsteilung: Es entstanden große Schriftgießereien wie in Deutschland die Berliner Berthold AG, die andere kleine Firmen, u.a. die 1870 gegründete österreichische Poppelbaum-Gießerei, aufkaufte. Die großen Schriftgießereien konnten in hoher Geschwindigkeit gebrauchsfertige Drucktypen produzieren, was die Nachfrage der Großdruckereien auch verlangte. Diese hatten nämlich wiederum ein lesehungriges städtisches Publikum zu bedienen. 

Die Linotype-Maschine, erfunden von Ottmar Mergenthaler, setzte die Buchstaben bereits maschinell zu einer Zeile zusammen und löste den Satz von Hand ab.

Quantität statt Qualität?

Obwohl das Geschäft florierte, brachte die Technisierung auch Nachteile. Über Jahrhunderte hatte sich in der Typografie ein hoher künstlerischer Anspruch an die Schrift entwickelt. Die Kalligrafie war bis dato die Grundlage für wohlproportionierte und ästhetisch ansprechende Typen der Satzschrift gewesen. Nun riss diese Verbindung ab: Die modernen Stempelschneider befreiten die in Handarbeit entstandenen Vorlagen von ihren „Ungleichmäßigkeiten“. Egal ob gebrochene Schriften oder Antiqua, alle Dickten wurden vereinheitlicht und Ober- und Unterlängen sowie Kontraste zwischen Grund- und Haarlinie nivelliert. Das Ergebnis waren Satzschriften, die allesamt ähnlich aussehen und oft viel zu dünn verliefen, um eine gute Lesbarkeit zu garantieren. Gleichzeitig gab man sich Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts dem Historismus hin und frönte typografischen Ornamenten und üppigem Akzidenz- und Auszeichnungssatz. Der Grund? Obwohl Drucksachen maschinell produziert wurden, sollten sie trotzdem wie aufwendig gestaltete Handwerkskunst aussehen. In Massen gegossene Versatzstücke wie Zierlinien, Einfassungen oder Schmuckfiguren lagen in den Setzereien bereit, um wahllos kombiniert zu werden.

Um 1900 frönten die Druckereien dem Historismus und versuchten mit massenweise produzierten verschnörkelten Versatzstücken die vergangene Handwerkskunst maschinell zu imitieren.

Das Kunstgewerbe entsteht

Der Brite William Morris war einer der ersten, die Kritik an den maschinellen Surrogaten übte. Er begründete die englische Arts and Crafts-Bewegung und bereitete damit den Weg für ein Kunstgewerbe, in dem wieder von Hand gearbeitet wurde. 1890 gründete er die Kelmscott Press, in der kostbare Werke englischer Dichter in geringer Auflage auf Handpressen gedruckt wurden. Morris studierte die Renaissance mit künstlerischem Ernst und entwickelte die Antiqua Golden Type nach dem Vorbild der Schriften des französischen Typografen Nicolas Jenson aus dem 15. Jahrhundert. Daneben schuf Morris auch die Troy Type und Chaucer Type, die Elemente der Gotik, also einer gebrochenen Schrift, und Antiqua verbanden. Viele Typografen begannen, sich wieder auf die Kunst der Typografie zu besinnen und so entstand neben der Maschinerie ein Druckergewerbe, das der Tradition der Frühdruckzeit folgte. 

William Morris begründete die Arts and Crafts-Bewegung und brachte u.a. die hier abgebildete Antiqua Golden Type hervor. Entgegen dem Historismus versuchte er mit künstlerischem Ernst und tatsächlicher Handarbeit der feinen Typografie des 15. Jahrhunderts zu folgen.

Von der Jugend zum Jugendstil 

Neben den Traditionalisten gab es auch jene, die nach vorne blickten, um dem Historismus mit gestalterischer Authentizität den Kampf anzusagen. Der Österreicher Rudolf von Larisch gründete die Schriftbewegung und plädierte für ein ästhetisches Gesamtbild in der Typografie. Damit stand er bereits den Idealen des Jugendstils nahe. 1896 wurde in München das Magazin „Jugend“ gegründet, das dem Stil des Art Nouveau im deutschsprachigen Raum seinen Namen geben sollte. Die Jugend forderte eine Befreiung von allem historisierenden Pomp und engagierte berühmte Gestalter wie Otto Eckmann, Peter Behrens oder Bernhard Pankok für Illustrationen, Initialen bzw. Vignetten und Randleisten. Der frische Stil sorgte für Aufsehen, was moderne Verleger dazu brachte, Jugendstilkünstler auch für die Gestaltung von Büchern zu engagieren. Um für stilistischen Gleichklang zwischen Mengensatz und Schmuckbuchstaben zu sorgen, schufen Otto Eckmann und Peter Behrens um die Jahrhundertwende jeweils eigene Jugendstil-Typen für den Fließtext. Doch eigentlich besaß Peter Behrens Schrift eine Sachlichkeit, die bereits andeutete, dass auch der anfangs so radikal wirkende Jugendstil seinen Zenit bald überschritten haben würde. Wie zuvor die Ornamente des Historismus produziert worden waren, brachten die Schriftgießereien um die Jahrhundertwende massenweise stilisierte Blütenranken und Linien im Stil des Art Nouveau hervor. Bald wurde wieder der Ruf nach mehr Schlichtheit laut, dem man jedoch erst nach dem ersten Weltkrieg wirklich nachkommen konnte. 

Unterschiedliche Cover des Magazin “Jugend”, das dem Stil im deutschsprachigen Raum seinen Namen gab.
Die Jugendstilschrift von Peter Behrens besaß bereits eine Sachlichkeit, die die nahende Abstraktion der Typografie schon erahnen ließ.

Mit der Werbung zur Gebrauchsgrafik 

Neben der Entwicklung des Kunstgewerbes bis hin zum Jugendstil an der Wende zum 20. Jahrhundert, ist aus typografischer Sicht noch eine andere Entwicklung des 19. Jahrhunderts von Bedeutung: Jene der Werbung. Mit der Industrialisierung entdeckten Wirtschaftstreibende die Reklame für sich. 1885 schrieb die Berliner Börsenzeitung, dass „die Reklame die moderne Waffe im geistigen Kampf ums Dasein“ sei. Das größte Problem der Werbung war jedoch die gestalterische Unwissenheit der Setzer. Zeitungssetzer waren plötzlich gefordert, plakative Inserate zu gestalten und versuchten mit dem Einsatz möglichst vieler Schriften möglichst viel Aufmerksamkeit zu erzielen. Es mangelte an Auszeichnungsschriften, die sich für Werbezwecke eigneten. Diesem Bedarf nachkommend, entwickelte der Brite Vincent Figgins 1815 die Egyptienne, auf deren Basis viele weitere Schriften ihrer Art entstanden: optisch gleichbleibende Strichstärke mit blockartig gestalteten Serifen ohne Übergang. Der geometrische und kraftvolle Rhythmus der Egyptienne-Typen passte sehr gut ins Maschinenzeitalter. Zeitgleich veröffentlichte William Caslon auch die erste Grotesk-Schrift als Auszeichnungs-Type.

Die zunächst unerfahrenen Werbesetzer versuchten mit möglichst vielen Schriften Aufmerksamkeit auf ihre Inserate zu ziehen.

Die zuvor beschriebene Entwicklung des Jugendstils brachte im Weiteren auch einen Gesinnungswandel in der Werbung mit sich. Ein Großteil der Seiten der Jugend war mit Reklame gefüllt. Da der Anspruch der Gestalter hoch war, wurden auch die Inserate stilistisch passend gestaltet. Das Konzept begeisterte die Leserinnen und Leser, woraufhin Wirtschaftstreibende begannen, Künstler mit der Illustration ihrer Werbungen zu beauftragen. AEG war eines der Unternehmen, das die Publikumswirkung künstlerischer Werbegestaltung früh erkannte. 1907 beauftragten sie den Architekten, Maler und Typografen Peter Behrens als künstlerischen Berater. Behrens baute für AEG in der Folge neue Fabrikanlagen, entwarf technische Produkte und gestaltete mit seiner Behrens-Antiqua alle Drucksorten – die erste Corporate Identity war geboren. Neben den Künstlern, die für die Werbung tätig wurden, entstand nun auch der Beruf des professionellen Gebrauchsgrafikers. 

Abstrakte Sachlichkeit: Futurismus, Dadaismus, Konstruktivismus, De Stijl

Erst nach dem ersten Weltkrieg konnte man dem Ruf nach einer moderneren und schlichteren Typografie nachkommen. Schriftgießereien begannen nun, eine breite Palette von Werktypen bereitzustellen. Neben klassizistischen Antiqua-Schnitten rückten die Groteskschriften immer weiter in den Vordergrund. Bereits in der Kriegszeit rebellierten Futuristen und Dadaisten gegen künstlerische Traditionen, eine Revolution der Kunst trat jedoch erst um 1920 ein. In ihren Manifesten und Einladungen zu Soireen ließen Vertreter wie Filippo Tommaso Marinetti, Tristan Tzara oder Richard Huelsenbeck die Buchstaben nur so umherfliegen. Während Futurismus und Dadaismus eine künstlerische Zerstörungslust an den Tag legten, fingen andere deutschsprachige Gestalter an, konstruktiver zu denken. Dabei spielte auch der in der Sowjetunion entwickelte Konstruktivismus eine große Rolle. Einer der Botschafter dieser Kunstrichtung, die die Gestaltung mit einfachen geometrischen Formen ins Zentrum rückte, war der russische Maler und Grafiker El Lissitzky. Lissitzky beeinflusste mit seiner abstrakten Formensprache viele Typografen. In Verbindung mit dem Konstruktivismus stand auch die niederländische De Stijl-Gruppe um Piet Mondrian und Theo van Doesburg, die ebenso eine sachlich-abstrakte, „elementare“ Gestaltung propagierte. In Deutschland wurde 1907 der Deutsche Werkbund gegründet, der als Keimzelle der modernen visuellen Gestaltung gilt. Unter den Mitgliedern waren der deutsche Architekt und Gestalter Walter Gropius sowie Peter Behrens. Den Gründern des Werkbunds ging es vor allem um eine sachliche Art der Formgebung, die sich aus Zweck, Material und Konstruktion ergeben sollte – kurz: form follows function

Das Bauhaus

1919 gründete Walter Gropius das Staatliche Bauhaus in Weimar und ebnete damit den weiteren Weg in Richtung typografischer Abstraktion. Das Bauhaus gilt bis heute als einflussreichste Bildungsstätte im Bereich Architektur, Kunst und Design im 20. Jahrhundert. Sein Ursprungsgedanke war die Emanzipation der Kunst von der Industrialisierung und damit die Wiederbelebung des Kunsthandwerks – jedoch in einem modernen Sinn. Das Bauhaus war damit der Gegenentwurf zur Ästhetik des Historismus und später auch des Jugendstils, in denen Ornamente durch die industrielle Massenproduktion seriell kopiert wurden. Mit der Rückbesinnung auf das Handwerk wollte man auf moderne und experimentelle Weise eine neue Formensprache entwickeln, die dem industriellen Herstellungsprozess gerecht würde. 1923 holte Gropius den konstruktivistischen ungarischen Maler Lázló Moholy-Nagy ans Bauhaus, der dort die Typografie zu einem Schwerpunkt machte. Das Bauhaus folgte dem typografischen Trend zum Elementaren: Groteskschriften, ein asymmetrischer, aber funktionaler Seitenaufbau, der natürliche Schwerpunkte zulässt (Stichwort: typografische Rastersysteme), viel Schwarz-Weiß und gelegentlich Rot als Akzent. Die auch heute noch oft verwendete durchgängige Kleinschreibung fand ebenso am Bauhaus seinen Anfang. Die Bauhaus-Erklärung auf ihrem Briefbogen dazu: „warum zwei alfabete, wenn eins dasselbe erreicht? warum groß schreiben, wenn man nicht groß sprechen kann?“ Für die Bauhäusler wurde ihre Grotesk-Typografie einer jungen Industriegesellschaft gerecht, die zugleich Fortschritt, Internationalität, aber auch eine sozial orientierte Fraternisierung symbolisierte. 1925 wurde das Bauhaus nach Dessau verlegt, wo sich aus Moholy-Nagys Typografie-Werkstatt eine Druckerei- und Reklamewerkstatt entwickelte, die weiter zum Atelier für Grafikdesign ausgebaut wurde. An dieser Entwicklung waren besonders auch die Gestalter Joost Schmidt und Herbert Bayer beteiligt. 

Die „Neue Typografie“ 

Obwohl das Bauhaus bis heute synonym für eine neue Art der Typografie steht, gehörte ihr eigentlicher Theoretiker nicht zur Kunstschule: Jan Tschichold. Mit einem Aufsatz in einem Sonderheft der Leipziger „Typographischen Mitteilungen“ beschrieb er die Thesen seiner „Elementaren Typografie“. Einige der Thesen aus diesem Aufsatz sind nachfolgend gelistet:

  • Die neue Typografie ist zweckbetont. 
  • Zweck jeder Typografie ist Mitteilung, deren Mittel sie darstellt. Die Mitteilung muss in kürzester, einfachster, eindringlichster Form erscheinen. 
  • Elementare Schriftform ist die Groteskschrift aller Variationen: mager, halbfett, fett, schmal bis breit. 
  • Schriften, die bestimmten Stilarten angehören oder beschränkt nationalen Charakter tragen (Gotisch, Fraktur, Kirchenslavisch), sind nicht elementar gestaltet und beschränken zum Teil die internationale Verständigungsmöglichkeiten. 
  • Auch die unbedruckten Teile des Papiers sind ebenso wie die gedruckten Formen Mittel der Gestaltung.
  • Elementare Gestaltung schließt die Anwendung jeden Ornaments aus. Die Anwendung von Linien und an sich elementaren Formen (Quadraten, Kreisen, Dreiecken) muss zwingend in der Gesamtkonstruktion begründet sein. 

Neben Jan Tschichold war Willi Baumeister einer der einflussreichsten neuen Typografen. Auch er sprach sich gegen eine symmetrische Ordnung aus (siehe oben linke Seite) und plädierte für einen Schriftsatz, der dem natürlichen Sehen und Lesen (siehe oben rechte Seite) nachkam und den Weißraum als Gestaltungselement miteinbezog. Jeglicher opulent gestalteter Werbung setzte er entgegen: „Telegrammstil ins Optische übertragen. Rapid muß ein Plakat, eine Anzeige mit dem Auge gefaßt und abgelesen werden können.“ 

Obwohl es an Regeln nicht mangelte, fehlte es den neuen Typografen lange an einer Schrift, die ihrem Streben nach Unpersönlichkeit und Zeitlosigkeit nachkam. Grotesk-Schriften für Akzidenzen konnten selbst gezeichnet werden, aber eine geeignete Schrift für den Mengensatz war noch nicht vorhanden. Obwohl Jan Tschichold aufgrund der Lesbarkeit für den Fließtext zunächst auch eine unaufdringliche, sachliche Antiqua empfahl, verwendete er selbst für sein Handbuch der „Neuen Typographie“ eine serifenlosen Schrift: die Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Akzidenz-Grotesk der Berthold AG. Trotzdem waren sich die modernen Gestalter einig, dass eine neue Schrift für ihre neue Typografie geschaffen werden musste. Großen Erfolg hatte in der Folge Paul Renner mit seiner Futura. Die Schrift basierte auf den geometrischen Formen Kreis, Dreieck und Quadrat und wurde damit zum Favoriten aller Modernisten.

Mit seiner Futura kam Paul Renner dem Wunsch der “Neuen Typografen” nach einer modernen geometrischen Grotesk nach.

Zug um Zug eroberte die Grotesk-Typografie ab 1920 Europa. Die Gestaltung wurde durch ein Aufeinanderprallen von modernen, avantgardistischen und traditionellen Ansätzen konstruktiv vorangetrieben – bis Faschismus und Nationalsozialismus an die Macht kamen. 


Literatur

Beinert, Wolfgang. Typografie [online]. Typolexikon, 2021-08-25 [Letzter Zugriff am 2021-12-24]. Verfügbar über: https://www.typolexikon.de/typografie/

Beinert, Wolfgang. Schriftgeschichte [online]. Typolexikon, 2021-02-05 [Letzter Zugriff am 2021-12-24]. Verfügbar über: https://www.typolexikon.de/schriftgeschichte/

Blackwell, Lewis. Twentieth Century Type. München: Bangert, 1992. 

Gerdes, Claudia. „Typo um 1900“, in Günder, Gariele (Hrsg.), Page 03.18. 

Gerdes, Claudia. „Reklamekunst“, in Günder, Gabriele (Hrsg.), Page 05.18.

Gerdes, Claudia. „So wurde Type modern!“, in Günder, Gabriele (Hrsg.), Page 07.18.

Gerdes, Claudia. Was ist elementare Typografie? Jan Tschichold hatte da ganz klare Antworten [online]. Page Online, 2018-05-13 [Letzter Zugriff am 2022-01-01]. Verfügbar über: https://page-online.de/typografie/was-ist-elementare-typographie-jan-tschichold-hatte-da-ganz-klare-antworten/

Tschichold, Jan. Die Neue Typographie : Ein Hand für zeitgemäß Schaffende. Berlin: Brinkmann und Bose, 1987.

Typografie – Einstieg

Schrift existiert beinahe überall. Typografie ist damit ein essentieller Bestandteil unseres Lebens. Sie hilft uns, uns in der komplexen Welt zurechtzufinden. Schrift visualisiert Sprache, mittels Sprache kommunizieren wir und wir können nicht nicht kommunizieren (wie wir von Paul Watzlawick wissen). Laut Erik Spiekermann wird dem Menschen die Bedeutung von Schrift aber vor allem erst dann bewusst, wenn er (oder sie) diese nicht mehr versteht. Jeder, der bereits in Japan war, aber keine japanischen Schriftzeichen lesen kann, versteht, was Spiekermann meint: Kann man keine Straßenschilder, keine Zeitungsüberschriften, keine Nachrichten oder Fahrpläne mehr lesen, fühlt man sich völlig verloren. Ein weiteres, noch. Extremeres Beispiel von Spiekermann: Einkaufen. Wie wüssten wir ohne Schrift auf dem Etikett, welches Müsli in einer Packung ist oder welches Öl in einer Flasche ist? Über diese reine Vermittlung von Inhalt hinausgehend, ist Schrift aber nicht gleich Schrift. Hier kommt die Typografie ins Spiel. 

Wer meint, er verstehe etwas von Schrift, weil er ja lesen könne, irrt sich gar sehr.

Jan Tschichold

Ein Text ist grundsätzlich die Abfolge von zu Wörtern zusammengesetzten Buchstaben. Die Schrift als einziges Darstellungsmittels des Textes wirkt sich dabei auf seine Wahrnehmung aus. Die Vielfalt an unterschiedlichen Schriftarten und das entwickelte Reglement für ihre Anwendung spricht für die Bedeutung der Form von Schriftzeichen. Um klarer mit den Begriffen „Schrift“ und „Typografie“ arbeiten zu können, gilt es diese zunächst zu definieren. 

Definition von Schrift und Typografie 

Laut dem Duden ist Schrift die „Gesamtheit der in einem System zusammengefassten grafischen Zeichen, besonders Buchstaben, mit denen Laute, Wörter, Sätze einer Sprache sichtbar festgehalten werden und so die lesbare Wiedergabe ermöglichen.“ Diese Definition verweist in keinerlei Hinsicht auf die Form der einzelnen Schriftzeichen. Spricht man von Schrift im Allgemeinen, ist es zunächst unwichtig, ob das A nun Serifen hat oder nicht – dies unterscheidet Schrift im allgemeinen Sprachgebrauch von Typografie. Schrift ist (oder sollte) für jeden von Bedeutung sein, der sich mit Text befasst. Forssmann und de Jong dazu:

Schrift ist der Werkstoff des Typografen – und damit ist nicht nur der professionelle Typograf gemeint: Wer am Rechner einen Brief tippt, E-Mails verschickt, Präsentationsunterlagen gestaltet oder eine private Einladungskarte erstellt, betreibt zwangsläufig Typografie.

Wer sich näher mit Typografie beschäftigt, verwendet das Wort “Schrift” nicht nur für die Gesamtheit aller Zeichen eines Schriftsystems, wie vom Duden angeführt. “Schrift(en)” bezeichnen innerhalb der Typografie auch die unterschiedlichen Typen von Schriften (Schriftarten, engl. typefaces, fälschlicherweise auch oft als fonts bezeichnet – diese meinen jedoch den einzelnen Schriftschnitt innerhalb einer Schriftfamilie. Doch Licht in dieses Begriffsdunkel möchte ich in einem weiteren Blogpost bringen.) Forssmann und de Jong schreiben dazu: “Im Zeitalter der digitalen Satzsysteme sind mit “Schriften” digitalisierte Schriften gemeint.” In dieser Betrachtungsweise können Schriften von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus analysiert werden: aus Perspektive der historischen Entwicklung und Herkunft, hinsichtlich der Ästhetik der Einzelformen und ihrem harmonischen Zusammenwirken, aus technisch-funktionaler Sicht mit Fokus auf Schriftgestaltung, Schriftentwurf und Lesbarkeit und schlussendlich aus Anwendungsperspektive mit der Frage, welche Schrift warum und für welchen Zweck gut oder schlecht funktioniert und wie man damit umgehen muss.

Was meint aber nun eigentlich “Typografie”? Eine Definition der Typografie zu finden, scheint heute gar nicht so einfach. Etymologisch stammt “Typo” vom altgriechischen typos, das ursprünglich “Schlag” oder “Stoß” bedeutete, später aber auch “Eindruck, Muster, Bild” – analog zum lateinischen typus, das “Figur, Bild, Muster” meint. “Graphie” stammt ebenso vom Altgriechischen ab: graphia bezeichnet das “schreiben, darstellen, zeichnen”. Nun haben wir als Designer:innen natürlich eine Vorstellung davon, was Typografie ist – auch wenn wir diese nicht auf den Punkt definieren können. Der Duden führt für “Typografie” zwei Definitionen: Die „Kunst der Gestaltung von Druck-Erzeugnissen nach ästhetischen Gesichtspunkten; Buchdruckerkunst“ sowie „typografische Gestaltung (eines Druck-Erzeugnisses)“. Auffällig ist dabei die stete Verwendung von „Druck-Erzeugnis“, obwohl es doch ganz augenscheinlich ist, dass Typografie auch in digitalen Medien eine große Rolle spielt. Warum ist das so? Kulturhistorisch wurde der Begriff  der Typografie tatsächlich für sämtliche Bereiche der Buchdruckerkunst und damit synonym zu dieser verwendet. Die Typografie meinte damit alles vom konkreten Entwurf der Druckschrift (Typometrie) über den Letternguss und Methoden zur drucktechnischen Vervielfältigung bis hin zur formalen Gestaltung von Druckwerken. Aufgrund der technologischen Weiterentwicklung und der Einführung des Bildschirms zur Textdarstellung hat sich die Bedeutung des Begriffs „Typografie“ jedoch gewandelt (– und der Duden hat scheinbar verabsäumt, seine Definition anzupassen). Heute verbindet man Typografie nicht mehr automatisch mit dem Buchdruck, sondern vielmehr mit dem materiellen oder digitalen Schriftbild als solchem – egal, worauf gedruckt wurde oder welches digitale Medium den Text darstellt. Typografie meint also das Schriftbild als solches, ob für Druck oder Screen, mit allen unterschiedlichen Parametern, die bei der Gestaltung des geschriebenen Textes verwendet werden. Neben der Typografie existiert auch die „Typografik“. Im Gegensatz zur Linguistik als Sprachlehre, beschäftigt sich die Typografik mit der Lehre der Schrift. 

Was ist nun der Zweck der Typografie? 

Im Grunde könnte jede Schrift überall immer gleich aussehen. Das wäre jedoch nicht nur schrecklich langweilig, sondern auch der Verständlichkeit von Texten abträglich. Ein Grundprinzip der Typografie und ihr erster Zweck ist die Lesbarkeit und damit einhergehende Verständlichkeit von Texten. Um dieser Rechnung zu tragen, wird man bei komplexeren typografischen Arbeiten selten mit einer einzigen Schrift auskommen, sondern wird für Auszeichnungen innerhalb des Fließtextes, Überschriften oder zur Kennzeichnung unterschiedlicher Textebenen unterschiedliche Varianten einer Schrift oder mehrere Schriftarten verwenden.

Über die Lesbarkeit hinaus vermittelt Typografie auch Immer eine gewisses Gefühl, gibt dem Text einen visuellen Charakter. Damien und Claire Gaultier argumentieren, dass „Untersuchungen gezeigt [haben], dass der Leser eine stilistische Verbindung zwischen einem Schriftzeichen und einem Text sehr wohl wahrnimmt und würdigt: ein Schrifttyp scheint ihm für einen bestimmten Zweck besser geeignet als ein anderer.“ Damit muss Typografie also nicht nur die Lesbarkeit von Texten gewährleisten, sondern kann mittels Visualisierung Einfluss auf die holistische Wahrnehmung der Leser:innen nehmen. 

Auch Leser:innen nehmen die stilistische Verbindung von Text und Inhalt durchaus wahr und empfinden Schriften als passend oder unpassend für gewisse Zwecke.

Die Würde des Textes

Auch wenn – oder gerade weil –  sich mittels der Typografie die Wahrnehmung eines Textes beeinflussen lässt, ist der bedachte und gekonnte Einsatz von Typografie so wichtig. Der Typograf und Autor Robert Bringhurst betont in seinem Werk The Elements of Typographic Style, dass die Würde des Textes respektiert werden muss. Er meint damit: Der Inhalt eines Textes steht an erster Stelle und alles andere – also die gesamte Typografie – hat diese Würde zu respektieren. Ina Saltz fügt diesem Gedanken hinzu, dass natürlich auch jede Schrift und jede typografische Gestaltung ihren Respekt verdienen – jedoch haben sie die Aufgabe, die Botschaft des Textes zu verdeutlichen und ihr einen entsprechenden Rahmen zu geben. Bringhurst plädiert deshalb für typografische Sorgfalt bei den scheinbar einfachsten Texten, seien es auch nur Busfahrpläne. Saltz geht mit diesem Gedanken sogar vor Gericht: 

Welche Verantwortung haben wir also gegenüber dem Text? […] Jeder Designer trifft moralische (bin ich mir für so etwas zu schade?) und pragmatische (werde ich meinen Job/Kunden verlieren, wenn ich den Auftrag ablehne?) Entscheidungen, doch mit der Würde des Textes ist es wie vor Gericht: Jeder hat das Recht auf einen Anwalt und fairen Prozess und ist so lange unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen ist. 

Kurzum: Jeder Text verdient es, typografisch einwandfrei dargestellt zu werden. Als Designer:innen sollten wir typografische Expert:innen sein, um jedem Text, lang oder kurz, typografisch gerecht werden zu können.

Klassifikation der Typographie

Auch in der Typographie unterscheidet man zwischen Theorie und praktischer Anwendung. Im Typolexikon, einem populärwissenschaftlichen Langzeitprojekt, das sich als Fachenzyklopädie rundum Schrift, Typografie und Grafikdesign versteht, klassifiziert Autor Wolfgang Beinert Typografie in unterschiedliche Wissenschaftsbereiche und nennt u.a. folgende, aus meiner Sicht für den Designberuf besonders relevante: 

  • Historische und neuere Schriftgeschichte 
  • Klassifikation von Print und Screen Fonts und deren kunstgeschichtliche Zuordnung
  • Wissen über die Arten des Lesens und Betrachtens
  • Die Lehre von der ästhetischen, künstlerischen und funktionalen Gestaltung von Buchstaben, Satz- und Sonderzeichen, gesamten Schriften
  • Die typografische Anwendung in Druckwerken, digitalen Medien und im dreidimensionalen Raum 

Bereiche und Disziplinen der angewandten Typografie

Die letzten beiden Punkte der obigen Aufzählung beschreiben die Anwendung der Typografie. Die angewandte Typografie ist wiederum in Teilbereiche gegliedert. Zunächst kann die Anwendung von Schrift in Makrotypografie und Mikrotypografie unterteilt werden. Mikrotypografie wird auch Detailtypografie genannt und bezieht sich auf alle typografisch relevanten Parameter innerhalb einer Zeile, zum Beispiel Anführungszeichen, Binde- und Gedankenstrich, Interpunktion, Apostroph und Ligatur, Kerning, Abstände und Laufweite, Zahlen etc. Makrotypografie bezieht sich damit auf alle typografisch relevanten Parameter über die Zeile hinaus, u.a. Zeilenabstand, Spalten, Spaltenbreite, Format und Raster, Seitenränder und Satzarten. Mikro- und Makrotypografie existieren jedoch nicht unabhängig voneinander – es ist nicht möglich, eine Komposition makrotypografisch zu gestalten, also ihr Layout zu erstellen, ohne dabei auf die mikrotypografischen Gegebenheiten in der Zeile Rücksicht zu nehmen. 

Mikrotypografie bezieht sich auf alle Parameter innerhalb einer Zeile – von den einzelnen Zeichen bis zur Laufweite zwischen den Glyphen. Makrotypografie umfasst die gesamte typografische Gestaltung über die Zeile hinausgehend. Die Übergänge zwischen diesen Bereichen ist jedoch fließend, da sie in der Anwendung nicht ohneeinander funktionieren.

Neben der Unterscheidung von Mikro- und Makrotypografie wird die angewandte Typografie auch in Disziplinen unterteilt: 

  • Lesetypografie (Basistypografie)
  • Corporate Typography (Schrift im Corporate Design, Leit- und Informationssystemen)
  • Gebrauchstypografie (Akzidenz- und Werbetypografie)
  • Kunsttypografie (Typografie für künstlerische Zwecke)
  • Plastische Typografie (Lapidartypografie, dreidimensionale Schrift im Raum)
  • Schriftgestaltung (Type Design)
  • Animationstypografie (Schrift in Bewegung, Schriftanimation)

Ausblick

Der Einstieg ins große Thema „Typografie“ wäre damit getan. Im Weiteren geht es nun um eine Wissensanreicherung aus möglichst vielen Bereichen der Typografie – mit dem Ziel, dass sich irgendwo irgendwann ein Forschungsgebiet oder eine Forschungsfrage ergibt, bei der ich „hängenbleibe“. 


 

Literatur

Beinert, Wolfgang. Typografie [online]. Typolexikon. [Letzter Zugriff am 2021-12-22] Verfügbar über:https://www.typolexikon.de/typografie/

Duden. Suchbegriff: Schrift [online]. [Letzter Zugriff am 2021-12-22] Verfügbar über: https://www.duden.de/suchen/dudenonline/schrift

Duden. Suchbegriff: Typografie [online]. [Letzter Zugriff am 2021-12-22] Verfügbar über: https://www.duden.de/rechtschreibung/Typografie

Forssmann, Friedrich und Jong, Ralf de. Detailtypografie. Mainz: Schmidt, 2004. 

Gaultier, Damien und Claire. Gestaltung, Typografie etc. Ein Handbuch. Salenstein: Niggli, 2009.

Kramer, Lindsay. Typeface vs. Font: Was ist der Unterschied und spielt er eine Rolle? [online]. 99designs. [Letzter Zugriff am 2021-12-22] Verfügbar über: https://99designs.de/blog/design-tipps/typeface-vs-font/

Saltz, Ina. Typografie. 100 Prinzipien für die Arbeit mit Schrift. München: Stiebner, 2010. 

Spiekermann, Erik. Stop Stealing Sheep & find out how type works. Kalifornien: Adobe Press Mountain View, 1993.