Es ist noch kein Bauhaus vom Himmel gefallen – Die Entwicklung der Zeichen-Pädagogik als Basis von Gestaltungslehre
In einer geschichtlichen Aufarbeitung ist ein grundlegendes Problem, wo der Beginn zu setzen ist. Im Nachhinein wirken historische Ereignisse oft als singuläre, revolutionäre Aktionen, doch selten geht dem keine kontinuierliche Entwicklung voraus. So auch beim Bauhaus.
Auch eine lange Reise beginnt mit dem ersten Schritt, ich setze diesen im 18. Jahrhundert. Um Bauhaus und das gestalterisch-pädagogische 20 Jahrhundert verstehen zu können, scheint dies ein geeigneter Ausgangspunkt. Aufklärung und Industrielle Revolution haben Spuren hinterlassen. Der Begriff der Bildung wird neu geformt, war es davor noch Gott und Religion, welche als Ziel der Ausbildungen erkannt wurden, sind es nun die Menschen und ihre Position in der Gesellschaft, die geformt werden sollen. Im Grafischen Kontext sind es erste Zeichenschulen, die entstehen. Das Zeichnen ist ein elementares Fach, und wird zunehmend nicht nur als handwerkliche Errungenschaft, sondern zur Ausbildung eines persönlichen Urteilsvermögens gesehen. Geometrisches Zeichnen und Freihandzeichnen sind gleichermaßen wichtig. Denn Zeichnen als zentraler Ausbildungspunkt hat einen rein pragmatischen Grund: Wissenstransfer. Eine Idee zu Papier bringen, damit andere aus dieser Idee ein Produkt fertigen können.
In der Schweiz wird beispielsweise 1762 die erste Zeichnungsschule gegründet. Zusammenlegungen und die parallele Entwicklung von Kunstschulen lässt im Laufe der Zeit zwei Richtungen entstehen: technische Klassen und Kunstklassen. Dieses Modell führt sich später in den gleichsam unterteilten Abteilungen der Gewerbeschulen nieder.
Recht sehen und hören ist der erste Schritt zur Weisheit des Menschen.
Heinrich Pestalozzi
Verschiedene kluge Köpfe beschäftigen sich mit der Lehre der zeichnerischen Grundlagen, neben dem sinnvoll aufgebauten handwerklichen Charakter der Zeichenlehre entsteht bald eine Wertschätzung für die Beschäftigung mit elementaren geometrischen Formen als Basis aller Gestaltung. Besonders erwähnenswert ist Heinrich Pestalozzi, welcher um 1800 den pädagogischen Grundstein für die grafische Ausbildung von Generationen nach ihm legt. Er setzt viel früher und ganzheitlicher an, er sieht die Zeichenlehre als zentrales Mittel der Volksbildung. Schon Kinder sollen mit diesen Mitteln ein eigenständiges Urteilsvermögen entwickeln können. Neben Sprache, Gesang, Schreiben und Rechnen zählt er eben Zeichnen zu diesen elementaren Fächern. Es geht darum, ein Gefühl für Zahlen und Masseverhältnisse zu bekommen und definiert in seinem »ABC der Anschauung« detailliert, wie der Zeichenunterricht aufbauend diese Fähigkeiten trainieren kann. Einfache Formen, gerade Linien, Quadrate, die immer weiter geteilt werden, Kreuzungen und Weiterführung zu Bogen, Kreis und freie krumme Linien bilden seine Grundlagen.
Das »ABC der Anschauung«ist für die Formen, was das gewöhnliche ABC für die Sprache ist.
Johann L. Ewald, 1891
Das Verständnis von Punkt, Linie, Gerade, Fläche und Winkel als Grundlage des bildnerischen Denkens zur allgemeinen Anhebung des Wissensstandes der Bevölkerung setzt sich nach Pestalozzi bald Europaweit durch. Den Bogen von der allgemeinen, kindlichen Volksbildung zur Zeichenschule der Erwachsenen spannt Jakob-Christoph Miville um 1816. Stark beeinflusst von Pestalozzi baut er dessen Unterricht weiter aus, schafft den Grundstein zum Vorkurs an der allgemeinen Gewerbeschule in Basel und beeinflusst damit den Unterricht bis weit ins 20 Jahrhundert hinein. Milville teilt seinen Unterricht in 4 Lehrgänge und berechtigt die Absolventen für eine Ausbildung in Spezialschulen für architektonische oder technische Zeichner, Landschafts- oder Historienmaler.
Teil eins seines Kurses beschäftigt sich mit Linearzeichnung, ähnlich wie Pestalozzi erkundet er einfachste Formen und Linien um in Studien deren Entstehen und Wirken zu erforschen. Teil zwei (Zeichnen nach geometrischen Körpern) geht in die Dritte Dimension, Kuben und Würfel werden in steigender Schwierigkeit in Perspektive gesetzt. Licht und Schatten werden eingeführt. Der nächste Kurs (Zeichnen nach Modell) wird die eigene Leistung mit der von alten Meistern durch das Kopieren von Vorlagen verglichen (Gebäude, Berge, Flüsse, Seen, Pflanzen, usw). Im Zentrum des letzten Teils steht Zeichnen im Freien und die Studie der menschlichen Gestalt.
In weiterer Folge ist es die Arbeit Friedrich Fröbels die vor allem wieder im frühkindlichen Aspekt richtungsweisend ist. Sein Bildungskonzept baut auf dem spielerischen Erforschen der Umwelt. Seine »Spielgaben«, die im Kindergarten eingeführt werden und bis in die Volksschulen weitergeführt werden, bestehen aus einem System aus Würfeln, Quadern, Walzen und Kegeln, die in steigender Komplexität in einem Raster gewisse Formen ergeben. So soll spielerisch ein Grundverständnis dieser Eementarformen und -körper entwickelt werden. Sein System wird weltbekannt und ist in diesem Kontext deshalb interessant, weil einige wichtige Namen Fröbels System entweder selbst als Schüler erlebten oder zumindest sehr stark davon inspiriert wurden: Frank Lloyd Wright, Kandinsky, Le Corbusier waren Fröbel-Schüler, stark inspirert von seiner Lehre waren u. A. Walter Gropius, Paul Klee, Piet Mondrian sowie Johannes Itten.
Es waren wirklich Gaben! Mehrere Jahre saß ich an dem kleinen Kindergartentisch, über den sich im Abstand von zehn Zentimetern Längs- und Querlinien zogen , sodass lauter kleine Quadrate entstanden. Dort spielte ich mit dem Quadrat, und dem Dreieck – es waren glatte Ahornklötze. Scharlachrote Pappdreiecke mit weißer Unterseite dienten als Dreieckssektoren, mir denen ich nach meiner eigenen Fantasie Muster legen konnte. Mit der Zeit musste ich auch mit anderen Mitteln Entwürfe machen. […] Ich bin mit Fröbels Gaben direkt auf meinen Beruf vorbereitet worden. (Frank Lloyd Wright 1984)
Den Abschluss in dieser – gezwungenermaßen komprimierten – geschichtlichen Bodenbereitung für die Gestaltungspädagogik des 20. Jahrhunderts ist Phil Ritters Konzept des »Zeichnens nach Modell« um 1900. Bis dahin war es üblich, das Zeichnen nach Vorlageblättern zu schulen. Als pädagogische Forderung nach Induvidualität und künstlerischer Entfaltung entwickelt er seine Lehrmittel in Bern und wird damit schnell bekannt. Die künstlerische Selbstständigkeit, das persönliche Erkennen des Schülers steht für Ritter im Fokus. Dazu unterscheidet er vier Modellarten: Naturmodelle, Modelle künstlicher Herkunft, Gipsmodelle und Elementarkörper. In der Suche nach Auffassungs- und Darstellungserkenntnis umfassen diese Übungen die flächenhafte Wirkung, das Hervorheben von Gegensätzen, Licht- und Schatten und lineare Darstellung sowie wesentliche Farben.
Man darf nicht vergessen, dass bei jeder künstlerischen Betätigung eine Art Übersetzung vorgenommen wird, bei der nicht die objektive Modell-Darstellung, sondern ein entschieden subjektives Festhalten des durch das Motiv angeregten künstlerischen Vorstellung von Wichtigkeit ist.
Phil Ritter, 1907
Simple Reproduktion weicht somit einer künstlerischen Interpretation, Betonung und Gewichtung geschehen aus einer persönlichen Entscheidung. Diese Abstraktion führte im Bereich von Ritters Wirken sehr bald zu einer eigenen visuellen Sprache.
Neben diesen Aspekten ist vor allem der Zugang im Unterricht, der Ritter auszeichnet: Das Korrigieren soll sich nach Ritter auf eindeutig Falsches beschränken um die Erziehung der Selbstständigkeit und des Selbstbewusstseins nicht zu stören. Ebenfalls sollen sich diese Korrekturen auf den Blattrand oder auf separaten Blättern gemacht werden und nicht mehr in die Arbeit des Schülers – welcher somit Respekt und Wert vermittelt wird.
Zeichnerische Grundlagenvermittlung als zentrales Element einer gewerblich-handwerklichen Ausbildung hat sich somit Mitte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt. Der nächste wichtige Schritt wird ein weiterer Grundpfeiler des Bauhauses sein: die Zusammenführung von Kunst und Handwerk.