Sicht einer Therapeutin: Ein Interview

Die Sicht von MedizinerInnen auf das Thema wird vermutlich unterschiedlich ausfallen. Eventuell wäre es angebracht eine Umfrage in spezifischen Fachkreisen zur Anwendung von Videospielen in der Medizin zu machen. Um einen ersten Einblick zu erhalten, möchte ich ein Interview der Xbox Wire DACH Redaktion mit der Psychologin Jessica Kathmann untersuchen und zusammenfassen.

Kathmann beginnt mit der These, dass ihre Patienten sich Spiele aussuchen, die sie in einer bestimmten Weise widerspiegeln. Manche spielen Stories, die etwas mit ihnen persönlich zu tun haben, andere kompensieren mit ihnen, was ihnen im realen Alltag fehlt. So konnte Kathmann bereits häufig eine Gesprächsbasis aufbauen und sich den wahren Problemen langsam nähern. Die Wahl der Spiele sei zwar emotionsbedingt, jedoch nutze sie die Spiele nicht als Werkzeug, um Emotionen hervorzurufen (1).

 „Einer psychologischen Theorie nach müssen für psychisches Wohlbefinden drei Grundbedürfnisse befriedigt sein: Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit.“

Xbox Wire DACH Redaktion; Interview mit Kathmann, Jessica (2021)

Neben körperlichen Grundbedürfnissen gibt es auch psychische Grundbedürfnisse. Kathmann nennt hier Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit. Es gibt jedoch verschiedene Theorien zu psychologischen Grundbedürfnissen, so zum Beispiel nach Grawe, welcher vier Grundbedürfnisse beschreibt: Bindung, Kontrolle/Selbstbestimmung, Selbstwert und Lust/Unlust (2).

Videospiele können ebendiese Bedürfnisse durch zum Beispiel Handlungsfreiheit und Mehrspieler- und Onlinemodi befriedigen. Außerdem bieten Spiele eine Pause vom Alltag, sodass der Spieler Abstand von Problemen im Alltag gewinnen kann und diese anders bewertet, als in der akuten Situation (1). Hier wird die Distanz zur Realität aus meinem vorherigen Beitrag aufgegriffen.

Weiterhin beschreibt Kathmann einige positive Effekte auf Spieler. So nennt sie das spielen „Identitätsarbeit“, da das ausprobieren und entwickeln der eigenen Persönlichkeit ermöglicht wird. Außerdem werden Aktionen, im Gegensatz zur Realität, mit direktem Feedback belohnt (1).

Die Psychologin nutzt Videospiele innerhalb ihrer Therapien als Zugangsmöglichkeit zum Patienten. Es lassen sich häufig Parallelen erkennen, die den Einstieg in die Therapie erleichtern können. Ein wichtiger Aspekt beim spielen selbst sei die Selbstreflexion, um ein gesundes Spielverhalten zu erhalten, „denn es ist gar nicht so einfach, herauszufinden, was genau ein Spiel in uns auslöst“. Doch die bewusste und kontrollierte Nutzung von Videospielen ist wichtig, um der Spielsucht nicht zu verfallen. Denn durch das verstanden, gesehen und unterstützt fühlen kann eine solche bei unkontrolliertem Spielen leicht entstehen. (1).

Mit ihrer Aussage, dass bei jedem Menschen ein anderes Videospiel positive Effekte herbeiführen kann, unterstützt sie außerdem das Prinzip der persönlichen Relevanz.

Zusammengefasst lässt sich an dieser Stelle sagen, dass Videospiele aus Kathmanns Sicht Potenzial haben, zumindest für die mentale Gesundheit. Dieses Potenzial sieht sie jedoch in allen Videospielen, für jeden individuell, und nicht nur in solchen, die als Health Games deklariert sind und zu medizinischen entwickelt wurden.

Im Interview wird ein Podcast der Psychologin und der Mental Health Game Jam aufgegriffen, welche ich im folgenden Beitrag ergänzend zu diesem genauer beleuchten möchte.

(1) https://news.xbox.com/de-de/2021/05/31/mental-health-in-gaming-interview-jessica-kathmann/

(2) https://www.klaus-grawe-institut.ch/blog/1205/

Emotionale Distanz und Nähe in Videospielen

Im letzten Beitrag wird die Distanz des Spielers zum Geschehen im Spiel als nützlich für Health Games dargestellt. Doch wie genau entsteht diese Distanz und lässt sie sich beeinflussen?

Das Max-Planck-Institut hat 2009 eine Studie zum Thema “Reality=Relevance?” veröffentlicht. Die meisten Menschen genießen das bewusste ‚Abschalten‘ vom Alltag durch Medien wie Filme oder Videospiele. Hierzu gibt es verschiedene Gründe, auf die ich jedoch in einem separaten Beitrag eingehen möchte. Die Studie untersucht, ob der Mensch Realität und Fiktion anhand der persönlichen Relevanz unterscheidet.

Bei den Untersuchungen durch Magnetresonanztomographie stellte sich heraus, dass bei fiktionalen Charakteren (in der Studie wird beispielsweise Cinderella genannt) andere Gehirnareale aktiv sind als bei realen Personen. Menschen wie zum Beispiel Politiker (mittlere Relevanz) und Familienmitglieder (hohe Relevanz), aktivierten die Gehirnregionen, welche für persönlich relevante Erfahrungen und Kenntnisse zuständig sind. (1)

Die Wahrnehmung von Personen oder Situationen ist bekannterweise individuell. So entstehen auch unterschiedliche Konzepte im Unterbewusstsein, welche der Mensch mit ebendiesen Dingen verbindet. Eine weitere Erkenntnis der Studie ist, dass diese Konzepte Einfluss auf die persönliche Relevanz haben. Je detaillierter und verständlicher diese Konzepte sind, desto höher ist die persönliche Relevanz und das damit einhergehende Realitätsverständnis. (1,2)

Ein Beispiel:

„For instance, parents reported that their 4-year old children consider fictional characters that are associated with specific regular events in one’s life, such as Santa Claus, the Easter Bunny and the Tooth Fairy, to be more real than fictional characters that are not related to real-life events, such as dragons, fairies and monsters”

Abraham, Von Cramon (2009): S.4

Die persönliche Relevanz ist demnach individuell. So kann Mensch einen Videospielcharakter, mit dem er sich zeitintensiv und ausführlich beschäftigt hat, als relevanter empfinden als einen Talkshowmoderator, den er noch nie gesehen hat. (1)

Die wahrgenommene Realität hängt demnach mit der persönlichen Relevanz zusammen. An dieser Stelle könnten Health Games anknüpfen, indem sie durch das Spielerlebnis gezielt persönlich relevante Themen ansprechen. So wäre es zu erklären, dass Patienten die benötigte Nähe zum Geschehen empfinden und trotzdem eine Distanz wahren können.

(1) Abraham A, von Cramon DY (2009) Reality = Relevance? Insights from Spontaneous Modulations of the Brain’s Default Network when Telling Apart Reality from Fiction. PLoS ONE 4(3): e4741.

(2) https://www.derstandard.at/story/1237230167159/intuitive-trennung-von-phantasie-und-realitaet

Das Potenzial von Videospielen: Was macht ein Videospiel aus?

Bei genauerer Betrachtung von Health Games stellt sich die Frage, wieso das Konzept eines Videospiels als medizinisches Hilfsmittel überhaupt funktionieren kann. Hierzu ist es notwendig zu klären, was ein Videospiel überhaupt ausmacht.

Grundsätzlich kann ein Spiel als Medium definiert werden, welches ein Erlebnis vermitteln soll. Hierzu zählen analoge Spiele wie Gesellschaftsspiele aber auch digitale Spiele, welche im Folgenden unabhängig von ihrer Plattform als Videospiele bezeichnet werden. Ein Erlebnis wird geschaffen, indem die Gestaltung des Spiels ein bestimmtes Ziel verfolgt, wie das Hervorrufen bestimmter Gefühle und die Lösung eines Problems (1). Schell beschreibt außerdem 10 definierende Aussagen, die auf jedes Spiel zutreffen:

„M1. Spiele werden willentlich gespielt.
M2. Spiele haben Zielsetzungen.
M3. Spiele beinhalten einen Konflikt.
M4. Spiele haben Regeln.
M5. Spiele können gewonnen oder verloren werden.
M6. Spiele sind interaktiv.
M7. Spiele stellen die Spieler vor eine Herausforderung.
M8. Spiele können eine eigene Bedeutsamkeit generieren.
M9. Spiele verwickeln die Spieler in das Geschehen.
M10. Spiele sind geschlossene, formale Systeme.“

Schell, 2012, S. 123-124

Spiele können, je nach Ziel und Spielinhalt, in Kategorien eingeteilt werden. Bei Videospielen wird in diesem Sinne häufig von Spielgenres gesprochen. Bei der Global Consumer Survey 2020 wurden Personen verschiedener Altersgruppen befragt, welche Genre Sie am liebsten spielen. Zu den beliebtesten Genres in Österreich gehören Strategie-, Action/-Adventure- und Simulationsspiele (2).

Spieler und Spielerinnen spielen ein Spiel demnach willentlich, um ein Problem zu lösen, welches das Spiel vorgibt. Dieser Erkenntnis nach formuliert Schell seine Definition eines Spiels als „Problemlösungsaktivität, die mit einer spielerischen Einstellung angegangen wird“ (1).

Als ein weiteres Genre gilt das der Serious Games, welche das direkte Ziel verfolgen, Lerninhalte zu vermitteln. Da die Verkaufszahlen in der Branche in den letzten Jahren ansteigen, wird von einem weiteren Wachstum ausgegangen. So wenden sich mehr Entwickler der Vermittlung von Lerninhalten zu. Als Beispiel wird unter anderem Assassins Creed Origins genannt, welches geschichtliche Themen interaktiv erlebbar macht (3).

Werden Videospiele nun für medizinische Zwecke eingesetzt, kann die freiwillige Problemlösungsaktivität genutzt werden. Die aktive Teilnahme am Spielprozess hat hierbei einen großen Vorteil zu anderen Medien wie Filmen, welche nur eine passive Auseinandersetzung mit dem Erlebnis bieten. Wird ein Spiel bewusst im Zusammenhang mit der Behandlung einer Krankheit eingesetzt beziehungsweise genutzt, erfüllt es die Funktion eines Health Games (4).

Quellen:

(1) Schell, J. (2012). Die Kunst des Game Designs. Heidelberg: Mitp Verlag.

(2) Statista (2020). url: https://de.statista.com/prognosen/1000174/umfrage-in-oesterreich-zu-beliebten-game-genres abgerufen am 16.11.2020

(3) game – Verband der deutschen Games-Branche e.V. (2020). url: https://www.game.de/guides/fokus-serious-games/fuenf-thesen-zur-zukunft-von-serious-games/ abgerufen am 15.11.2020

(4) Thiele-Schwez, M.; Sauer, A. (2020). Wunderpille Games?! Mit digitalem Spiel gegen reale Krankheiten. In: Görgen, A.; Simond, S.: Krankheit in Digitalen Spielen: Interdisziplinäre Betrachtungen. Bielefeld: transcript 2020, S 367 – 386.

Das Potenzial von Videospielen

Videospiele werden häufig als reiner Zeitvertreib angesehen oder sogar als Zeitverschwendung (1). Allerdings besitzen sie ein größeres Potenzial, als einige annehmen würden.


Bei der Gestaltung eines Videospiels wird das Ziel verfolgt, ein Erlebnis zu erschaffen. Der Spieler soll dazu angeleitet sein, eine Problemlösung zu erarbeiten und dabei zum Beispiel Spaß empfinden. Aber Spaß ist nicht das einzige Gefühl, das Videospiele auslösen können. Jedes Videospiel baut auf einem Leitthema auf, welches ebenso seriös oder traurig sein kann, wie fröhlich und witzig. So können auch tiefergehende Themen kommuniziert werden (2).

Eine besondere Kategorie der Videospiele stellen die Serious Games dar. Diese werden zu Lehrzwecken in verschiedenen Bereichen eingesetzt und können den „menschlichen“ Unterricht ersetzen. So werden in den USA bereits Modellversuche durchgeführt, in denen Schüler mithilfe von Videospielen ihren Unterrichtsstoff aufnehmen. Eine Unterkategorie der Serious Games sind sogenannte Health Games. Diese unterstützen die Medizin durch ihren Beitrag zu therapeutischen und diagnostischen Verfahren. (3) Somit ist klar, dass Videospiele nicht nur kulturelle Werte und Informationen vermitteln (1), sondern auch als wichtiges Hilfsmittel dienen können.

Die frühesten Entwicklungen verdeutlichen diese Entwicklung. 2020 wurde in den USA das erste, von der FDA zugelassene, Videospiel zur medizinischen Behandlung veröffentlicht. EndeavorRxTM wird als verschreibungspflichtiges Medikament für an ADHS erkrankte Kinder eingesetzt. Das Spiel stimuliert die Gehirnstrukturen der Patienten und trainiert so gezielt ihre Aufmerksamkeit (4).


Die Videospiel- und Game-Design-Branche erlebt derzeit einen besonderen Umschwung. Nicht nur durch die aktuelle Covid-19 Situation, sondern auch bedingt durch technischen Fortschritt, wird ein Wandel der Spiele von einem Zeitvertreib zu medizinischen Hilfsmitteln angetrieben. Das Potenzial von digitalen Spielen wird jedoch in der Literatur nur wenig kommuniziert.

Durch die Erarbeitung verschiedener Quellen zu Serious Games, insbesondere Health Games, in Hinblick auf deren Auswirkungen, Anwendungsbereiche und kritische Sichtweisen, kann eine Literaturbasis geschaffen werden. Auch eine direkte Analyse dieser Spiele kann hilfreich sein, um herauszufinden, welche Aspekte des Game Designs für medizinische Videospiele notwendig oder üblich sind.

Quellen:
(1) Dürnberger, C. (2014). Computerspiele für eine bessere Welt? (Natur)ethische Fragestellungen in video games. GAIA – Ecological Perspectives for Science and Society, 23, S. 231-235.

(2) Schell, J. (2012). Die Kunst des Game Designs. Heidelberg: Mitp Verlag.

(3) game – Verband der deutschen Games-Branche e.V. (2014). url: https://www.game.de/spielend-lernen/ abgerufen am 06.11.2020

(4) Akili Interactive Labs, Inc. (2020). url: https://www.akiliinteractive.com/news-collection/akili-announces-ce-mark-approval-of-endeavorrxtm-digital-treatment-for-children-with-adhd abgerufen am 06.11.2020