Auf Basis einer Wortmarke soll eine gesamte Schrift entstehen
Mit meinem letzten Blogbeitrag habe ich den aktuellen Zeichensatz meines ersten Type Design-Experiments vorgestellt – der Variable Font „Play“. Auch wenn für „Play“ noch viel Muse und Zeit aufgebracht werden müsste, um daraus eine wirklich solide Variable Font zu machen, habe ich beschlossen, dieses erste Experiment vorerst abzuschließen, da ich noch weiter in der Schriftgestaltung experimentieren möchte.
Ausgangspunkt zum zweiten Experiment
Als zweites Type-Experiment möchte ich eine weitere, dieses Mal jedoch statische Schrift gestalten. Unter der Anleitung des Lehrbeauftragten der FH Joanneum Daniel Perraudin habe ich mich auf die Suche nach Straßenschildern in Graz sowie einzelnen Wortabbildungen im World Wide Web begeben, die mich zur Gestaltung einer Schrift inspirieren würden. Die Idee dabei ist, nur ein Wort, bestehend aus wenigen Buchstaben, zu finden, die wiederum die Grundlage für eine gesamte neue Schrift bilden. Im besten Fall sollte es sich dabei um Custom Logos, also speziell gezeichnete Wortmarken, handeln, damit die daraus entstehende Schrift neue Züge aufweist und keine Kopie einer bereits bestehenden Schrift wird. Natürlich ist es schwierig, eine völlig neue Schrift zu gestalten, die sich von der bestehenden Fülle an Schriften völlig abhebt. Dies ist hier auch nicht der vorrangige Anspruch. Vielmehr geht es in diesem Projekt darum, sich mit der Form einiger weniger gegebener Buchstaben eingehend zu befassen, diese zu analysieren und ihren gemeinsamen Charakter herauszufiltern. Von diesen inhärenten Merkmalen ausgehend bzw. ableitend, sollen dann alle fehlenden Zeichen des Alphabets (Versalien und Gemeine) sowie auch Interpunktionszeichen und Zahlen gezeichnet werden.
Herausforderungen des Projekts
Die größte Herausforderung liegt im Herausfiltern der Eigenschaften und der Ableitung signifikanter Merkmale für ein grafisches System, das auf den restlichen Zeichensatz anzuwenden ist. In der Gestaltung einer Schrift geht es nicht nur um das Zeichnen einzelner Buchstaben, sondern vor allem auch um ihre Verwandtschaftsbeziehung. Höhen und Breiten, Rundungen und Stämme stimmen zwischen Buchstaben ähnlicher Form überein, damit die Schrift als einheitlich wahrgenommen wird. Darüber hinaus gilt es auch für das Spacing der Buchstaben sowie das Kerning einzelner Buchstabenpaare eine Einheitlichkeit zu finden, die den Satz homogen wirken lässt. Um diese Homogenität möglichst effizient zu erzielen, startet man in der Regel mit der Gestaltung jener Buchstaben, aus denen möglichst viel abzuleiten ist: dem kleinen n für die Gemeinen (x-Höhe, Kontrast und Bogenrundung) sowie H und O für die Versalien (Stamm bzw. Bogenrundung und dessen Übertretung der Grundlinie und Versalhöhe). (Vgl. Grabner: 2018, 30–41) Da im vorliegenden Projekt bereits Buchstaben gegeben sind, gilt es nun umgekehrt von diesen ausgehend einzelne Details abzuleiten und wiederum eine konstante Linie zu entwickeln.
Vorlage für die Schriftentwicklung
Nachfolgend zeige ich die Abbildung, die als Grundlage für die Schrift dienen wird.
Das Bild zeigt ein Logo als Signage an einer Betonmauer und stammt aus dem Internet. Es handelt sich dabei um eine sehr reduzierte Groteskschrift. Die Einfachheit der Schrift sagt dabei jedoch wenig bis nichts über die Schwierigkeit der Schriftgestaltung aus. Groteskschriften mögen einfacher in ihrer Form scheinen als Serifen-Schriften, jedoch verzeiht die Gestaltung keine Makel:
„Schriftgestalter bemerken schnell, dass sich die Fehlertoleranz bei diesen Schriften jedoch verringert. Wo das menschliche Auge nicht durch Details wie Serifen geleitet wird, fällt der kleinste Fehler in der Proportion, im Grauwert oder in der Balance sofort ins Gewicht und wird wahrgenommen.“ schreibt Valentina Grabner (2018:31) in ihrer Masterarbeit zur Entwicklung ihrer Schrift Diva Olivia. Oder kurz: „Schlichte Eleganz macht die meiste Arbeit.“ so Karen Cheng (2014:114).
Warum gerade diese Wortmarke?
Zugegeben: Es gäbe in Graz eine Vielzahl an alten Wortmarken an Hausfassaden, Tür- oder Geschäftseingängen, die ebenso gut Ausgangspunkt dieses Projektes sein hätten können. Warum also ein Bild aus dem Internet? Ich wollte schlicht nicht „irgendein“ Logo heranziehen, sondern eine Wortmarke, die ich selbst als überaus ansprechend und ästhetisch empfinde. Viele der alten Wortmarken, die ich auf einem Spaziergang durch Graz fand, waren üppig gestaltet, laut und schrill oder mit Schnörkel verziert. Mich selbst zieht es jedoch immer zur reduzierten Gestaltung. Ich stelle mir oft die Frage: Was kann meine Gestaltung noch entbehren? Was braucht sie eigentlich nicht, um trotzdem vollends das zu kommunizieren, was sie soll? Ganz im Sinne von Antoine de Saint-Exupéry, der sagte: „Perfektion ist nicht dann erreicht, wenn man nichts mehr hinzufügen, sondern wenn man nichts mehr weglassen kann.“ Was der Schriftsteller in seinen nur 44 Lebensjahren erkannte, ist zu einer leitenden Denke vieler heutiger Designer:innen geworden. Dem Maximalismus steht der Minimalismus gegenüber, der Reduktion und Simplizität zu seinem Leitbild erklärt hat.
Der Designer Ken’ya Hara strebt mit seinem Gestaltungsansatz über diesen westlichen Minimalismus noch hinaus und folgt dem japanischen Konzept des „kanso“: „[Japanese Design is]fundamentally different from the European version of simplicity because Japanese minimalist design was not the result of pursuing the most rational, functional design.“, so Hara. Er führt weiter aus: “For the Japanese, it was a conscious, strategic materialization of nothing-ness. It was a careful process of eliminating each and every excessive frill in order to create an empty vessel, at once a vacuum but with a powerful center of gravity, toward which people’s consciousness and creativity would be drawn.” Er nennt diese Art des Gestaltens aus diesem Grund nicht Minimalismus, sondern „kanso“, was auf Japanisch so viel bedeutet wie „keine Rüschen, einfach und rein„ oder emptiness“, also Leere.
Haras Vorstellung geht dabei weit über die erleichternde Reduktion auf das Wesentliche hinaus. Er bringt sein Konzept mit einem ökonomischen Vorteil in Verbindung, der die Zukunft maßgeblich beeinflussen soll:
He [Ken’ya Hara ] believes that locally unique aesthetics such as [the Japanese] “emptiness” can be critical economic resources to elevate our future beyond today’s materialistic society created by the globalized economy. He reminds us that “aesthetics” – our own ability to find beauty, excellence and happiness through our own senses and behaviors – has always been the third “hidden” button, after natural resources and resources, that we push to advance technology and quality of life, especially in Japan. We just forgot the importance of aesthetics as we busied ourselves in the game of economic efficiency. Now it is time to shift our focus towards aesthetics, suggests Hara, now that the ROI of efficiency-driven economic system is rapidly diminishing and our world is starting to suffer from its side effects such as resource constraints and climate change. Hara believes that by letting our world compete based on aesthetics, not the GDP, we could re-define affluence and happiness. (vgl. Fuji: 2017)
Hara propagiert also einen Paradigmenwechsel. Nach der Ausbeutung natürlicher und vom Menschen erzeugter Ressourcen zum Zwecke des technologischen Fortschritts sollen nun lokale Ästhetik-Konzepte wie das japanische „Kanso“ genützt werden. Nicht durch ein Immer-mehr, Immer-größer, Immer-schneller, sondern durch ein System des wertschätzenden Wettbewerbs ästhetischer Konzepte könnten nachhaltiges Glück und nachhaltiger Reichtum erreicht werden.
Geprägt von Haras Gedanken hat sich meine Suche nach einer geeigneten Wortmarke als Basis für eine Schrift sehr an feinen Formen und Linien orientiert, die Buchstaben nur soweit zeichnen wie es nötig zu sein scheint. Ich frage mich: Mit wie wenigen Strichen kann eine Schrift auskommen und trotzdem spannend bleiben? Jedenfalls möchte ich meiner Schrift Raum zum Atmen und Spielraum für Interpretation geben. Während sich andere Schriften vielleicht an den gestalterischen Merkmalen vergangener Kunstepochen orientieren oder ein ganz bestimmtes Gefühl erzeugen sollen, möchte ich meiner Schrift möglichst viel „Leere“ schenken. Ihre Herkunft und ihr Charakter sollen nicht in, sondern zwischen den Zeilen gelesen werden.
Quellenverzeichnis
Cheng, Karen. Anatomie der Buchstaben. Basiswissen für Schriftgestalter. 2. Auflage. Mainz: Verlag Hermann Schmidt, 2013
Fuji, Mihoyo. Kenya Hara and the aesthetics of “emptiness” [online]. 17.02.2007. In: zero = abundance. design your own happiness. Letzter Zugriff am 24.04.2022. Verfügbar über: https://www.interactiongreen.com/kenya-hara/
Grabner, Valentina. Diva Olivia. Ein Werk über eine Schrift, welche die Theorie sucht und scharfsinnig, elegant in die Welt hinausruft, unv. MA. Fachhochschule Joanneum, 2018.
Abb.1: Eine Wortmarke an einer Mauer als Basis für eine neue Schrift. Quelle: Pinterest / Urheber anonym
Manchmal geht es einfach darum zu spielen – auch als Grafiker:innen. Gamification hat längst Einzug in unsere Arbeitswelt gehalten und der Tischfußballtisch zählt für viele ohnehin zum Basisinventar eines Büros. Darum freue ich mich, den heutigen Blogpost einer Schrift widmen zu können, die aus reinem Spiel entstanden ist.
Aus der anfänglichen Frage, ob eine Variable Font zwischen einer Grotesk und einer tatsächlich handgeschriebenen Script interpolieren kann, entstand in den letzten Wochen eine Schriftdatei mit zumindest 48 Zeichen:
26 Großbuchstaben des lateinischen Alphabets
3 Umlaute (Ö, Ä, Ü)
10 Ziffern von 0 bis 9
8 Interpunktionszeichen
1 Ligatur (TT)
Passend zur spielerischen Entstehungsgeschichte trägt meine erste Schrift den Namen: PLAY. Die Achse interpoliert zwischen den Extremen „Strict“ und „Playful“. Die Anfänge und Fortschritte dieses Typo-Experiments wurden bereits im vorangegangenen Beitrag beschrieben – nun möchte ich dieses kleine Projekt in Form von einigen Anwendungen präsentieren. Dabei ist mir wichtig zu zeigen, dass man mit dieser einen Schrift ganz unterschiedliche Stimmungen erzeugen und in einem Poster kontrastieren kann. Kontrast ist dabei das Stichwort: Alle Poster wurden mit „Play“ gesetzt, die kontrastreichen Schnitte immer anhand der Interpolationsachse erzeugt. Dabei scheinen einige der Glyphen bewusst unperfekt, mit unregelmäßigem Spacing je mehr „playful“ es wird – genau wie die menschliche Handschrift selbst. Andere Glyphen verdienten noch eine weitere detailliertere Bearbeitung, weshalb ich dieses Projekt nur vorübergehend als abgeschlossen betrachte. Sobald es Zeit und Muse zulassen, möchte ich weiter an diesem Schriftsatz arbeiten. Zum derzeitigen Stand geht es aber vielmehr um das typografische Experiment und das Spiel – und das macht bereits jetzt schon großen Spaß. In diesem Sinne: Don’t forget to play!
Typografie ist mehr als das simple Darstellen von Texten, weshalb Schriften nicht alleine aus einem ästhetischen Bestreben heraus entstehen sollten. Jede Schrift sollte einen Charakter haben, der nicht versucht nachzuahmen was bereits existiert, sondern einen Mehrwert im bereits existierenden Schriftenpool darstellen. Schriftwahl und typografischer Satz unterstreichen die Botschaft eines Textes oder – falls gewollt – stellen diese auf die Probe. Ein Type Designer, dessen Schriften stark politisch aufgeladen sind, ist Tré Seals. Durch seine Arbeit wurde mir als Grafikerin klar, wie uniform viele der heutigen Designs sind und wie viel Typografie, die bewusst historisch, politisch oder gesellschaftskritisch aufgeladen ist, bewirken kann. Schrift ist ein Bedeutungsträger, der Leser:innen auf Unbedachtes oder Unbeachtetes aufmerksam machen kann. Es gibt wohl zu viele Schriften, die nur gefallen wollen oder sich zum Verwechseln ähnlich sehen – und eben wesentlich zu wenige, die eine Form-inhärente Botschaft tragen und sich dadurch von der Masse abheben.
Inwiefern Schriften selbst zum Bedeutungsträger werden können, möchte ich anhand der Arbeiten des zuvor erwähnten Type Designers Tré Seals in diesem Blogbeitrag beleuchten.
Seals Weg zu politischer Schriftgestaltung
Tré Seals ist Afro-Amerikaner, lebt und arbeitet in den Vereinigten Staaten. Er absolvierte sein Kommunikationdesignstudium 2015 und gründete ein Branding-Studio. Im Sommer 2016 war er auf der Suche nach Inspiration für ein Projekt. Dabei fiel ihm auf, dass viele Arbeiten sehr ähnlich aussahen. Kurz darauf fiel ihm eine Tabelle des U.S. Bureau of Labor Statistics zur Demografie in der Designbranche in die Hände. Diese besagte, dass nur 3 bis 3,5 Prozent der Designer:innen in Amerika schwarz waren und rund 85 Prozent weiß. Darin lag für Tré Seals der Grund in der Uniformität vieler Webseiten. Auf seiner eigenen Webseite schreibt Seals dazu: »Until recently, the majority of all designers in America were men. So if you’re a woman or if you’re of African, Asian, or Latin dissent, and you see an advertisement that you feel does not accurately represent your race, ethnicity, and/or gender, this is why.«
Seals argumentiert weiter, dass es in einer Branche, die von einer einzigen Sichtweise – nämlich einer männlich-weißen – geprägt ist, auch nur eine Art des Denkens, Lehrens und Schaffens geben kann. Ein Mangel an Vielfalt in Rasse, ethnischer Zugehörigkeit und Geschlecht führt zu einem Mangel an Vielfalt in Systemen, in Ideen und Kreativität.
So beschloss Seals, einen Weg zu finden, um die Vielfalt und Empathie in der Designbranche zu erhöhen. Er war sich bewusst, dass er die Demografie oder das Bildungssystem nicht ändern konnte. So fand er einen Weg, ein nicht-stereotypisiertes Stück Minderheitskultur selbst in das Design einzubringen. Er setzte dabei bei der Typografie an – ihm zufolge die Basis jedes guten Designs – und gründete seine Type Foundry Vocal Type. Mit den entstehenden Schriften möchte Seals ein Zeichen für mehr Vielfalt im Design setzen und Bewusstsein für Minderheiten in den Vereinigten Staaten schaffen, die durch die vorherrschende Designszene unterrepräsentiert sind.
Die Entwicklung der Schrift Du Bois
Als Tré Seals das erste Mal Rassismus erlebte, begann er sich mit der Geschichte der Afro-Amerikaner:innen auseinanderzusetzen. Im Zuge seiner Recherche stieß er auf den afro-amerikanischen Bürgerrechtler und ersten schwarzen Harvard-Doktoranden William Edward Burghardt Du Bois, der von 1886 bis 1963 lebte. Für die Weltausstellung 1900 in Paris hatte Du Bois Infografiken gezeichnet, die den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt der Afro-Amerikaner:innen seit dem Ende der Sklaverei 1865 visualisierten. Zugleich zeigten die Grafiken auch den systematischen Rassismus, den Schwarze seitdem erleb(t)en. Tré Seals war sehr beeindruckt von diesen Infografiken, auf deren Basis er eine Schrift entwickeln wollte. Diese Schrift sollte das Bewusstsein für die Geschichte der Afro-Amerikaner:innen in sich tragen.
Info-Grafiken des Soziologen und Bürgerrechtlers W. E. B. Du Bois für die Pariser Weltausstellung 1900.
Er analysierte zunächst die handgeschriebenen Buchstaben in den Grafiken von Du Bois, die eine starke Kohärenz aufwiesen. Er fertigte Skizzen mit Bleistift und Kugelschreiber an und importierte sie in den Fonteditor Glyphs. Dort zeichnete er die Buchstaben nach. Er fertigte unzählige Varianten der Buchstaben an, um schlussendlich jene Formen zu finden, die nahe am Original waren und zugleich als moderne Schrift funktionierten. Neben einigen Lettern, die sehr viel Zeit in Anspruch nahmen wie das Ampersand oder das Prozent-Zeichen, musste Seals auch viele Buchstaben völlig selbst zeichnen, da sie in den Grafiken der Weltausstellung nicht vorkamen – u.a. alle Kleinbuchstaben sowie mathematische Zeichen. Aus den Buchstaben, die der Bürgerrechtler Du Bois vor circa 120 Jahren von Hand schrieb, ließ der 27-jährige Schriftgestalter schlussendlich eine streng geometrische Sans-Serif entstehen. Zusätzlich fertigte er elf Style-Sets mit Formenvarianten an, durch die einzelne Lettern sehr unterschiedlich aussehen können: mit Art Déco-Touch oder als Slab Serif. Die Schrift Du Bois mag nicht die All-time-Variante werden, auf die Grafiker:innen im Zweifelsfall gerne zurückgreifen, doch eben darum ging es Seals eigentlich auch – endlich eine Schrift, die nicht wie alle anderen, sicheren Varianten aussah. Denn eines ist Du Bois gewiss: eine Schrift, die sich durch ihre starke Symbolik von der Masse abhebt und beweist, wie viel Verantwortung und Möglichkeit im Schriftdesign stecken.
Von Bürgerrechtsbewegung bis Gay Pride: Die Vielfalt von Vocal Type
Elf Schriften hat Tré Seals Vocal Type derzeit im Programm. Alle Schriften weisen eine Verbindung zu Minderheiten und ihren Geschichten auf: von der Bürgerrechtsbewegung in den USA über die weltweite Frauenwahlrechtsbewegung bis hin zu den Stonewall-Unruhen 1969, die als Beginn der Gay Pride Bewegung gelten oder einer eigenen Schrift für ein Buch des schwarzen Filmemachers und Schauspielers Spike Lee.
Erste Reihe: Schrift Martin in Anlehnung an den Protestmarsch, der kurze Zeit nach der Ermordung von Martin Luther King Jr. erfolgte. Darunter: Schrift Carrie ist eine Hommage an die Frauenwahlrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten.
Wichtig ist Tré Seals, dass seine Schriften jedoch nicht nur für politische Botschaften eingesetzt werden – vielmehr sollen sie in die Alltagsanwendung von Typografie Eingang finden, um so für mehr Vielfalt und Bewusstsein zu sorgen. So soll Du Bois, zum Beispiel, die ja von einem schwarzen Bürgerrechtler inspiriert ist, in Projekten mit völlig anderem Hintergrund wie dem Corporate Design eines Restaurants oder Modegeschäfts angewendet werden. So bestünde die Möglichkeit, so Seals, dass die Geschichte der Schrift von Leuten wahrgenommen wird, die sich ansonsten niemals damit beschäftigt hätten. Abschließen möchte ich diesen Beitrag mit Tré Seals Appell an alle Kreativen im Manifesto von Vocal Type:
This is a type foundry for creatives of color who feel that they don’t have a say in their industry. This is for creative women who feel that they don’t have a say in their industry. This is for the creative that is tired of being “inspired” by the same designs over and over again. Vocal is for the creative that cares about telling the stories of the people we serve and not the false history of the industry we work in. Vocal is for the creative that wants to build a community—not a following.
Tré Seals, Type Designer und Gründer von Vocal Type
Literatur
Dohmann, Antje. „Type that matters“, in Günder, Gabriele (Hrsg.), Page 03.21.
Systematik der Lesearten nach Hans Peter Willberg und Friedrich Forssman
Arten der Typografie
Typografie ist Gestaltung von und mit Schrift. Diese Gestaltung hat immer einen Zweck – jedoch kann dieser ganz unterschiedlich ausfallen. „Die Typografie“ gibt es deshalb nicht. Vielmehr geht es um die Frage: Was soll mit der Typografie erreicht werden? Je nach Anforderung unterscheiden Willberg und Forssman (2010:14) zwischen:
Orientierungstypografie: Sie muss den richtigen Weg weisen – zum Beispiel am Flughafen oder in einem Fahrplan.
Werbetypografie: Sie soll Aufmerksamkeit erregen – dabei ist alles erlaubt.
Designtypografie: Sie will erneuern und Risiken eingehen, um neue Wege zu gehen.
Zeitungstypografie: Sie soll klar und deutlich sein und schnell zur Sache kommen.
Magazintypografie: Sie soll zum Schmökern einladen.
Dekorationstypografie: Sie soll schön sein. Lesbarkeit ist zweitrangig.
Darüber hinaus erwähnen die Autoren die Typografie von Formularen, Verträgen und dergleichen, die ich an dieser Stelle als „Bürokratie-Typografie“ bezeichnen möchte.
Typografische Entscheidungen fallen also je nach Anforderung an die Typografie. Die zuvor genannten Arten der Typografie unterscheiden sich in der Art, wie wir den Text lesen. Zusammengefasst fallen sie also alle unter den Begriff „Lesetypografie“. Eine besonders herausfordernde Art der Lesetypografie, die oben noch keine konkrete Erwähnung fand, ist die Buchtypografie. Sie ist besonders komplex, weil auch innerhalb des Mediums „Buch“ eine enorme Vielfalt besteht. Man denke nur an den Unterschied zwischen einem Lexikon und einem Gedichtband oder einem Roman und einem Schulbuch. Sie alle sind Bücher – jedoch werden sie auf völlig unterschiedliche Weise gelesen. Es gibt also auch nicht „die Buchtypografie“.
Fotografie, Illustration und Typografie bilden die drei grundlegenden visuellen Sprachen von Gestalter:innen. Dabei verfügt die Typografie über die meisten Regeln. Die gestalterische Praxis lehrt einen jedoch schnell, dass nicht alle typografischen Regeln, die sich seit Jahrhunderten bewähren, immer gültig sind. Manchmal sind sie anwendbar, manchmal nicht und manchmal nur zum Teil. Da Bücher für das Lesen gemacht werden, schlagen Willberg und Forssman vor, bei typografischen Entscheidungen immer von der Art des Lesens auszugehen.
Die Art, wie gelesen wird, ist der Maßstab für die Buchgestaltung – nicht Typografen-Traditionen, Ideologien oder Meinungen.
H.P. Willberg und Friedrich Forssman
Bei welcher Leseart gelten welche Regeln? – das ist nach Willberg und Forssman die richtige Frage. Und nicht: Bei welchem Buch gelten welche Regeln? Die beiden Autoren gehen in ihrem Grundlagenwerk der Lesetypografie von der Buchgestaltung aus. Ich bin der Meinung, dass die Frage, wie der Text schlussendlich gelesen werden wird, bei allen anderen Medien genauso gestellt werden muss – und auch die unterschiedlichen Lesearten, die ich nun nachfolgend beleuchten möchte, können auf alle typografischen Werke, die längere Texte beinhalten zutreffen.
Die Systematik der Buchtypografie
Die Systematisierung von Lesearten ist ein Resultat der Praxis. Bei jeder Gestaltung müssen Typografen Entscheidungen treffen, die plausibel argumentiert sein wollen. Doch auf welcher Basis? Laut Willberg und Forssman bietet die Art des Lesens die richtige Grundlage. Sie bezeichnen Lesetypografie als „Buchgestaltung vom Leser und vom Lesen aus gesehen“ (2010:14). Aus diesem Blickwinkel heraus differenzieren sie zwischen acht unterschiedlichen Lesearten und daraus resultierende Typografien:
Typografie für lineares Lesen
Typografie für informierendes Lesen
Typografie für differenzierendes Lesen
Typografie für konsultierendes Lesen
Typografie für selektierendes Lesen
Typografie nach Sinnschritten
Aktivierende Typografie
Inszenierende Typografie
Nachfolgend möchte ich diese Lesearten und die mit ihnen verbundenen typografischen Regeln näher beleuchten.
1 Typografie für lineares Lesen
Lineares Lesen beschreibt die klassische Art des Lesens: eines nach dem anderen. Die Typografie soll hier möglichst großen Lese-Komfort bieten. Zu den Buchtypen gehören erzählende Prosa und Abhandlungen, die über viel Fließtext (also unstrukturierten Text) verfügen. Der Prototyp für lineares Lesen ist der Roman. Der Satz für lineares Lesen wie wir ihn heute kennen hat sich schon kurze Zeit nach der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern entwickelt. Tatsächlich konnte der Satz seitdem nicht mehr verbessert, sondern nur mehr modifiziert werden.
Typografische Mittel
Durch das lineare Lesen haben sich die „klassischen“ Regeln der Buchtypografie ergeben:
unaufdringliche Schrift
Leseschriftgrad (zwischen 8 und 11 Punkt, je nach Schrift)
enger Satz ohne „Löcher“, die den Lesefluss stören
60–70 Zeichen pro Zeile und 30–40 Zeilen pro Seite
ausgewogene Proportion zwischen Satzspiegel und Seitenrand
Überschrift
Überschriften bieten den Gestalter:innen Spielraum bei diesem Buchtyp: Mit ihnen kann man die Individualität und den Charakter des Buches betonen.
Auszeichnungen
Auszeichnungen sind im Mengentext integriert: klassisch sind die Kursive für Betonungen, Zitate und ähnliches, Kapitälchen werden für Eigennamen verwendet.
Die gestalterische Ähnlichkeit vieler Romane lässt vermuten, dass Typograf:innen wenig Freiraum hätten. Die Antiqua scheint ein Must-have, der Seitenspiegel immer derselbe. Dies ist jedoch nicht richtig. Ob ein Text gut linear gelesen werden kann, hat laut H.P. Willberg und Friedrich Forssman nichts mit einem konkreten typografischen Stil zu tun. Wenn der Text es erlaubt, können Absätze ungewöhnlich behandelt werden. Es kann auch eine Schrift gewählt werden, die sich angeblich nur für Akzidenzen eignet – wie von Sans Serif-Schriften oft behauptet wird. Eine Grotesk ist für einen Text, der linear gelesen wird, kein Problem, solange sie gut lesbar eingerichtet wird. Obwohl wir gewöhnt sind, dass Romane im Blocksatz gesetzt werden, kann man auch Flattersatz verwenden. Voraussetzung ist, dass die Satzqualität stimmt. Leser:innen dürfen nicht von einem zu aktiven Flattern oder sinnentstellten Worttrennungen abgelenkt werden. Die oben angeführten Zeichen- und Zeilenanzahl sind Faustregeln, mit denen man nichts falsch machen kann. Doch das schließt nicht aus, es auch einmal anders zu versuchen. Möchte man längere Zeilen setzen, dann muss anderswo für den Zweck der guten Lesbarkeit entgegengewirkt werden – zum Beispiel mit einer Schrift, die das Auge gut in der Zeile hält, einem etwas größeren Zeilenabstand und einem leicht getönten Papier, das ebenso angenehm auf das Auge wirkt.
Informierendes Lesen meint das schnelle und diagonale Überfliegen des Textes, um einen Überblick zu gewinnen, ob die gesuchte Information zu finden ist und was genauer gelesen werden muss. Leser:innen wollen sich zu einem bestimmten Thema informieren, ohne das ganze Buch zu lesen. Zu den Buchtypen gehören Sachbücher und Ratgeber, aber auch Zeitungen.
Typografische Mittel
Der Text muss gut gegliedert sein:
durch leicht überschaubare Einheiten
durch kurze Zeilen mit circa 40–50 Zeichen pro Zeile
durch kurze Absätze / Abschnitte
durch aktive Auszeichnungen (halbfette bis fette Schnitte, Initialen, Unterüberschriften)
Überschrift
Überschriften müssen kurze und deutlich über den Inhalt des nachfolgenden Abschnitts informieren.
Auszeichnungen
aktive Auszeichnungen, die man liest bevor man den Absatz oder die Seite liest, z.B. halbfette Schrift, die einem ins Auge fällt
integrierte Auszeichnungen im Mengentext (wie bei der linearen Lesetypografie)
Überschrift
Überschriften müssen kurz und deutlich über den Inhalt des nachfolgenden Abschnitts informieren.
Auszeichnungen
aktive Auszeichnungen, die man liest bevor man den Absatz oder die Seite liest, z.B. halbfette Schrift, die einem ins Auge fällt
integrierte Auszeichnungen im Mengentext (wie bei der linearen Lesetypografie)
Gerade die unterschiedlichen Textebenen und Inhalte, die sauber gegliedert sein wollen, müssen auch unterschiedlich gestaltet sein: Farbe, Schriftschnitte, Schriftgrade oder Schriftmischung bieten viele Möglichkeiten. Jedoch darf man nicht über das Ziel hinausschießen. Besser nach und nach unterschiedliche Absatz- und Zeichenformate einsetzen und immer kontrollieren, ob die Gliederung noch übersichtlich ist.
Man kann aber auch durchaus Ungewöhnliches ausprobieren: Wird der Haupttext im linksbündigen Flattersatz gesetzt, könnten Legenden rechtsbündig dazu sitzen. Passt es zu Thema, kann auch mit dem Satzspiegel gespielt werden: Alle Kolumnen könnten, zum Beispiel, am unteren Seitenrand sitzen und nicht klassisch am oberen – wie im Beispiel nachfolgend.
Texte, die in sich stark mit Begriffen oder Passagen strukturiert sind, die unterschiedlich, jedoch gleichberechtigt sind, müssen typografisch differenziert gesetzt werden. Die Zielgruppe sind „Berufsleser:innen“, die eine solche differenzierende Literatur gewöhnt sind und denen man auch längere Zeilen oder vollere Seiten zumuten kann. Die Buchtypen sind wissenschaftliche Werke oder Lehrbücher. Eine besondere Form der differenzierenden Lesetypografie ist auch der Dramensatz.
Typografische Mittel
gut ausgebaute Schriften, um gut differenzieren zu können: mindestens Kursiv, Kapitälchen, Halbfette und Halbfett-Kursiv
bis zu 80 Zeichen pro Zeile
ausreichender Zeichenabstand aufgrund längerer Zeilen
gute Vorbereitung und Probe aller typografischen Mittel
Detailgenauigkeit!
Überschrift
Überschriften sollen thematisch gliedern. Durch ihre typografische Form muss man erkennen, dass sie einen höheren hierarchischen Stellenwert haben.
Auszeichnungen
Es muss so ausgezeichnet werden, dass die Gleich-, Unter- oder Überordnung von Wörtern und Absätzen klar erkennbar ist. Dazu werden eingesetzt: Kursiv, Kapitälchen mit oder ohne Versalien halbfette Normale, Normale in Versalien, Sperrung (Abstand zwischen den Buchstaben wird fixiert), halbfette Kursive, halbfette Kapitälchen, kursive Kapitälchen, halbfette Normale in Versalien, leichte Normale, Unterstreichung, Schriftmischung, Farbe
Da die Differenzierung mit vielen unterschiedlichen Auszeichnungen bereits die Herausforderung der Übersichtlichkeit darstellt, sollte man wenig bis gar keine dekorative typografische Gestaltung einsetzen. Es scheint besonders wichtig, den Inhalt zu verstehen, um die Typografie unterstützend einzusetzen. Durch die starke Verbindung von Inhalt und Typografie ergeben sich aber auch Möglichkeiten der gestalterischen Kreativität wie das nachfolgende Beispiel zeigt:
Hier geht es um das gezielte Suchen von bestimmten Begriffen oder in sich geschlossenen Textpassagen. Leser:innen suchen eine konkrete Auskunft und sind deshalb besonders motiviert. Zu den Buchtypen zählen Nachschlagewerke aller Art mit Fußnoten, Anmerkungen, Register, Bibliografien, Zeittafeln u.a. Der Prototyp ist das Lexikon.
Typografische Mittel
meist kleine Schriftgrade
gute lesbare Schrift
geringer Zeilenabstand
volle Seiten, um viel Information unterzubringen
oft mehrspaltiger Satz
Überschrift
Überschriften sollen so deutlich wie möglich gliedern.
Auszeichnungen
Stichworte sollen ebenso so deutlich wie möglich ausgezeichnet werden. Andere Auszeichnungen müssen sich den Stichworten typografisch ein- oder unterordnen – je nachdem welche Funktion oder andere Leseart sie erfüllen.
Gestalterische Freiheit ist bei Nachschlagewerken vor allem in der Schriftwahl und -kombination bzw. auch im Papier und Veredelung zu finden, da der oft mehrspaltige Satz und die große Textmenge wenig Spielraum auf der Seite lassen. Es gibt Schriften, die eigens für den Einsatz in Lexika gezeichnet wurden, da sie auch in kleiner Schriftgröße für optimale Lesbarkeit sorgen. Hier gilt es sich für den Mengentext genau umzuschauen. Die Kombination von Grotesk und Antiqua lockert auf – zudem können Linien oder andere grafische Elemente für eine bessere Gliederung sorgen und bringen gleichzeitig Dynamik ins Bild.
Soll selektierend gelesen werden können, muss das Buch inhaltlich und typografisch in verschiedene Ebenen gegliedert werden. Diese Ebenen können in Verbindung miteinander oder unabhängig voneinander gelesen werden – müssen also in beiderlei Hinsicht funktionieren. Zu den Buchtypen gehören all jene Bücher mit verschiedenen Inhalten, bei denen Teile der Seiten einzeln aufgesucht werden, zum Beispiel didaktische Bücher (Schulbücher) oder Kochbücher (mit Zutatenliste und Kochanleitung).
Typografische Mittel
Gebot ist die eindeutige typografische Trennung der verschiedenen inhaltlichen Ebenen
dies kann mit allen typografischen Mitteln erreicht werden
Typografie für selektierendes Lesen kann in der Regel nicht programmiert werden, sondern erfordert eine Bearbeitung des Layouts von Seite zu Seite.
Überschrift
Überschriften müssen klar in ihrer hierarchischen Stellung erkennbar und dem entsprechenden inhaltlichen Abschnitt zuzuordnen sein.
Auszeichnungen
Wie bereits bei den typografischen Mitteln erwähnt, steht das gesamte typografische Repertoire zur Auszeichnung zur Verfügung: Kursive, Kapitälchen, Versalien, Halbfette, Unterstreichung, Farbe, Rastermarkierung, Rahmen, etc.
Die Gestaltung sollte jedoch nicht überstrapaziert werden, da ansonsten Verwirrung droht. Symbole sollten nur dann verwendet werden, wenn sich die Bedeutung von selbst erklärt und diese nicht erst erklärt werden muss. (Ausnahme: Ein wiederkehrendes Symbol-Repertoire für das gesamte Buch, das zu Beginn einmal erklärt wird und sich in jedem Kapitel wiederfindet).
Gestalter:innen genießen volle Freiheit bei der Wahl passender Auszeichnungen. Da Lehrbücher vor allem für selektierendes Lesen gesetzt werden und nicht alle Lernenden gleichermaßen motiviert sind, ist es gut, wenn die Gestaltung den Rezipienten Spaß macht. Die Grenze der Gestaltung liegt jedoch dort, wo die Übersichtlichkeit zu leiden beginnt. Die Orientierung hat auch für selektierendes Lesen oberste Priorität.
Hier wird der Zeilenfall (Umbruch) nach dem Sinnzusammenhang des Satzes gegliedert und nicht nach formalen Vorgaben. Dieser typografische Satz kommt vor allem bei Texten für Leseanfänger:innen zum Einsatz. Darüber hinaus kann Typografie nach Sinnschritten bei allen kurzen Texten eingesetzt werden, deren Umfang es zulässt, sie zeilenweise zu strukturieren und deren Inhalt schnell erfasst und sicher verstanden werden soll. Die inhaltsabhängige Gliederung wird entweder von den Autor:innen selbst oder vom Typografen Zeile für Zeile vorgenommen – diese Art des Satzes lässt sich also nicht programmieren. Geschichten für Lesebücher werden nicht nach Zeilenfall geschrieben. Hier müssen Typograf:innen den Text so lesegerecht organisieren, dass eine Balance zwischen sinngemäßen Zeilenumbrüchen und Flattersatz besteht. Der Flattersatz sollte dabei abwechslungsreich, aber nicht zu aktiv sein.
Buchtypen bzw. Buchteile umfassen Fibeln, Bilderbücher, Lehrbücher für Fremdsprachen, Textaufgaben und Bildlegenden. Willberg und Forssman geben zudem an, dass Überschriften und Unterüberschriften immer nach Sinnschritten gesetzt werden sollen. Beim Impressum sollten ebenso möglichst sinnvolle Trennungen vorgenommen werden, jedoch sollte das Satzbild trotzdem zusammenhängend erscheinen.
Aktivierende Typografie soll zum Lesen verleiten. Die Zielgruppe sind Leser:innen, die eigentlich gar keine sein wollen oder zumindest nicht geplant hatten, zu lesen: Schüler:innen, die kein richtiges Interesse zeigen oder Käufer:innen, die verleitet werden sollen, ein Buch in die Hand zu nehmen oder weiter darin zu lesen. Ganz unterschiedliche Bücher können aktivierend gesetzt sein – vom Schul- oder Sachbuch bis zum Geschenkbuch. Prototyp wäre nach Willberg und Forssman das Magazin.
Typografische Mittel
es gibt im Grunde keine typografischen Einschränkungen
das Motto: anders sein, auffallen, neugierig machen!
aktivierende Typografie funktioniert wie Werbetypografie und ist eine schöne Spielwiese für kommunikationsorientierte Designer:innen
Überschrift
Überschriften sollen auffällig sein und Leser:innen einfangen.
Inszenierende Typografie soll den Text durch seine Gestaltung steigern, interpretieren oder sogar verfremden, aber nicht dekorativ gegen die Sprache arbeiten. Diese gestalterische Inszenierung richtet sich an Leser:innen, die Spaß an Typografie haben und Anspielungen oder formale Zitate verstehen und schätzen. Manche Leser:innen sind sogar bereit, sich mit der Gestaltung soweit auseinanderzusetzen wie Theaterbesucher:innen mit der neuen Inszenierung eines Stücks.
Fast alle Buchtypen können inszenierende typografische Elemente enthalten. Ausnahmen sind Bücher mit strikten Strukturen wie Lexika. Den typografischen Mitteln sind keine Grenzen gesetzt: ob Buchstaben, Worte, Zeilen oder die ganze Seite, alles kann von strenger bis freiester Gestaltung reichen.
Die inszenierende Typografie unterscheidet sich vom Kalligramm oder der visuellen Poesie insofern, dass bei zuletzt genannten Form und Aussage identisch ist.
Die beleuchteten Lesearten kommen in der Praxis nicht immer unabhängig voneinander vor, ganz im Gegenteil. Ein Buch wird häufig auf unterschiedliche Arten gelesen. Ein Beispiel: Man liest ein Lexikon zuerst konsultierend bis man einen Begriff gefunden hat, liest den Eintrag dann informierend (also überfliegt ihn, ob er das bietet, was man sucht), liest ihn linear Wort für Wort oder differenziert, weil seine Struktur dies erfordert. Die Typografie muss dann allen Lesearten gerecht werden.
Lesetypografie bezieht sich immer auf Gebrauchsbücher. Es gibt auch Bücher, die nicht nur das Transportmittel für den Inhalt sind, sondern auch andere Anforderungen erfüllen müssen. Diese Bücher kann man nicht oder nur teilweise anhand der Systematik von Willberg und Forssman gestalten. Zu solchen Werken zählen, zum Beispiel, Künstler-Bücher, bei denen sich Form, Inhalt und Material verbinden und die als typografisches Experiment funktionieren. Auch visuelle Poesie, bei denen die Typografie Teil der Aussage ist oder typografische Arbeiten, bei denen der Inhalt zweitrangig ist gehören zu diesen Büchern. Auch Typografie für Webseiten muss nochmals besondere Ansprüche erfüllen. Einerseits kommen hier viele unterschiedliche Lesearten zum Einsatz, andererseits auch andere Typografiearten ins Spiel. Anhand der Navigation muss man sich orientieren können, einige Teile der Webseite sollen im Sinne der Dekorationstypografie vielleicht einfach „nur“ gefallen oder im Sinne der Werbetypografie Aufmerksamkeit erregen. Und auch die von Willberg und Forssman betitelte „Designtypografie“ kann bewusstes Mittel zum Zweck sein, um sich avantgardistisch oder fortschrittlich zu zeigen.
Wichtig ist auch, dass die vorgestellten Lesearten und die damit einhergehenden typografischen Regeln nicht statisch sind. Verändert sich die Gesellschaft, verändern sich auch Lesegewohnheiten. Wie liest man etwa auf Instagram oder Facebook? Auch innerhalb der Buchtypografie gibt es einen steten Wandel. Schulbücher sollen eine Einladung zum Lernen sein und unterhalten, Romane werden zum Teil inszeniert und auch wissenschaftliche Bücher sind heute definitiv „lockerer“ gestaltet als vor einigen Jahren. Willberg und Forssman argumentieren jedoch, dass diese Veränderungen neben allen Regeln existieren können. Denn einer Frage muss die Typografie immer bestehen können: Funktioniert sie als typografisches Transportmittel für die Anforderung an den Text? Um diese Frage schlussendlich bejahen zu können, ist die Systematik der Lesearten sehr hilfreich. Steht man am Beginn eines typografischen Projektes, bei dem ein Lesetext gesetzt werden soll, müssen sich Gestalter:innen fragen: Was will der Text eigentlich machen? Eine Antwort lässt sich leichter anhand der unterschiedlichen Lesearten finden – und dann ist man der typografischen Lösung schon ein großes Stück näher.
Literatur
Willberg, Hans Peter und Forssman, Friedrich. Lesetypografie. Mainz: Hermann Schmidt, 2010.
Die Typografie und das Lesen sind untrennbar miteinander verbunden. Sobald Menschen lesen können und die Schrift beherrschen, in dem ein Text gesetzt wurde, erkennen wir Buchstaben, setzen sie zu Worten und Sätzen zusammen und verstehen Bedeutungen. Dieser immanente Zusammenhang zwischen Text und Lesen legt auch die Verbindung von Typografie und Lesen offen. Beeinflusst die Typografie die Gestalt des Textes, liegt es nahe, dass sie auch beeinflusst, wie dieser Text wahrgenommen und gelesen wird. Darüber hinaus ist Typografie die formale Grundlage dafür, wie gut oder schlecht ein Text zu lesen ist. Aus diesem Grund möchte ich diesen Beitrag dem Zusammenhang von Typografie und Lesen widmen.
Was passiert, wenn wir lesen?
Man mag glauben, dass Lesen ein linearer Prozess vom Anfang eines Wortes, Satzes oder Textes bis zu dessen Ende ist. Das ist jedoch nicht der Fall. Unsere Augen springen in schnellen und zackigen Bewegungen hin und her und stehen dazwischen nur für kurze Zeit still. Die Sprünge nennt man Sakkaden und die Momente des Stillstands Fixierungen. Eine Sakkade umfasst ungefähr sieben bis neun Buchstaben, eine Fixierung dauert circa 250 Millisekunden. Während der Sprünge sieht das Auge nicht, jedoch sind die Bewegungen so schnell, dass wir diese gar nicht wahrnehmen. Während der meisten Sakkaden sind unsere Augen nach vorne im Text gerichtet, bei 10 bis 15 Prozent blicken sie zurück, um Buchstaben oder Worte nochmals zu lesen.
Zusätzlich zu den Sakkaden verwenden wir beim Lesen auch noch das periphere Sichtfeld, um vorauszusehen, was als nächstes kommt. Insgesamt lesen wir circa 15 Buchstaben auf einmal, wobei vor allem die ersten sieben Buchstaben semantisch erfasst werden. (Vgl. Weinschenk 2011:31).
Großbuchstaben versus Kleinbuchstaben
Im Laufe der gestalterischen Praxis begegnet man unweigerlich dem Mythos, das Großbuchstaben schlechter zu lesen seien als Kleinbuchstaben. Argumentiert wird dies mit der Form der Buchstaben, die bei Kleinbuchstaben wesentlich stärker variiert als bei Großbuchstaben. Jedoch ist es laut Weinschenk (2011:30) nicht wissenschaftlich belegt, dass uns die Form von Buchstaben beim Lesen helfen würde. Vielmehr antizipieren wir Buchstaben (wie bereits zuvor beschrieben) und erkennen Worte auf Basis der der Buchstabenfolge. Da wir jedoch nicht so sehr an das Lesen von Großbuchstaben gewöhnt sind, lesen wir diese tatsächlich langsamer als Kleinschreibung oder gemischte Groß- und Kleinschreibung. Dies ist der eigentliche Grund, warum Gestalter:innen Texte nicht ausschließlich in Großbuchstaben setzen sollten – es verlangsamt den Lesefluss. Zudem haben Großbuchstaben eine betonende Wirkung. Möchten wir Worte oder Textteile besonders hervorheben – sie „schreien“ lassen –, setzen wir sie in Großbuchstaben. (Vgl. Weinschenk 2011:30-31)
Serif versus Sans Serif
Ein weiterer Mythos betrifft die Debatte, ob Serif- oder Grotesk-Schriften leichter zu lesen wären. Der Argumentation, Grotesken wären leserlicher weil einfacher in der Form steht die Behauptung gegenüber, Serifen würden den Lesefluss unterstützen, da sie das Auge zum nächsten Buchstaben leiten würden. Laut Weinschenk (2011:37) gibt es jedoch auch hier keinen wissenschaftlichen Beweis, dass entweder die eine oder die andere Schriftklasse das Verständnis oder die Lesegeschwindigkeit beeinflussen würden.
Wir erkennen Buchstaben anhand ihrer Form. Das bedeutet, dass wir die Grundform eines A gelernt und gespeichert haben. Sobald wir nun einer Form begegnen, die der gelernten A-Form entspricht oder ähnelt, erkennen wir ein A darin. Aus diesem Grund können wir ganz unterschiedliche Schriften von Grotesk bis Kalligrafie lesen, auch wenn wir diese noch nie zuvor gesehen haben. An die Grenze stoßen wir beim Lesen dann, wenn Schriften die Buchstaben-Formen nicht mehr gut erkennen lassen. Wenn wir Probleme haben, die Schrift zu lesen, beeinträchtigt dies den Lesefluss und die Lesegeschwindigkeit massiv. Zudem hat eine solche Beeinträchtigung auch Einfluss darauf, wie Leser:innen den Text interpretieren. Eine Untersuchung von Hyunjin Song und Norbert Schwarz hat gezeigt, dass Menschen Turnübungen als schwieriger oder einfacher einstufen, je nachdem wir schwierig oder einfach der Text zu lesen ist. Wird die Anweisung in einer gut lesbaren Grotesk gesetzt, stufen Leser:innen die Übung als einfacher und kürzer ein als dieselbe Übung mit einer Anweisung in einer schwer lesbaren Script. (Vgl. Weinschenk 2011:38-39).
Texte sind auf einem Display schwerer zu lesen als auf dem Papier. Dies betrifft vor allem längere Texte. Der Grund liegt im Unterschied der Oberflächen. Ein Computer-Screen aktualisiert das Bild kontinuierlich, was es instabil macht. Zusätzlich wird der Text von hinten beleuchtet. Beides ermüdet das Auge nach längerer Lesezeit. Gedruckte Texte auf Papier sind stabil – werden also nicht aktualisiert. Zudem reflektiert das Papier das Licht. E-Book-Reader ahmen den Eindruck von Tinte auf Papier nach, halten das Schriftbild stabil und reflektieren ebenso das Licht anstatt den Text zu beleuchten.
Um trotzdem eine gute Lesbarkeit am Bildschirm zu gewährleisten, sollte die Schriftgröße nicht zu klein sein und vor allem ein möglichst großer Kontrast zwischen Hintergrund und Text bestehen. Schwarzer Text auf weißem Hintergrund ist demnach am besten zu lesen. Ähneln sich Hintergrund- und Textfarbe verschwimmt das Bild. Auch weißer Text auf schwarzem Hintergrund ist schwer zu lesen, da der schwarze Hintergrund dominiert und zarte weiße Buchstaben verschwimmen.
(Font) Size matters
Die Schriftgröße beeinflusst die Lesbarkeit von Texten maßgeblich. Ist ein Text zu klein, wird das Lesen zur Anstrengung. Bei der Größenwahl ist dabei unbedingt auf das tatsächliche Erscheinungsbild zu achten und nicht nur auf die Punkt-Zahl. Je nach x-Höhe wirken Schriften mit derselben Punkt-Größe größer oder kleiner. Je höher die x-Höhe, desto leichter sind Schriften am Bildschirm zu lesen. Aus diesem Grund haben Schriften wie Verdana, die eigens für Screens gezeichnet wurden, eine besonders hohe x-Höhe.
Ob für eine Webseite oder ein gedrucktes Werk, beim Setzen von Fließtext muss man irgendwann auch über die Satzbreite (Zeilenlänge) entscheiden. Aus Sicht der Leser:innen ergibt sich hier ein signifikanter Unterschied: Obwohl Menschen längere Zeilen mit circa 100 Zeichen schneller lesen, favorisieren sie kürze Zeilen mit circa 45 bis 72 Zeichen. Der Grund liegt in den zuvor beschriebenen Sakkaden. Mit dem Beginn einer neuen Zeile wird der Fluss von Sakkaden und Fixierungen gebrochen, was das Lesen verlangsamt. Je nachdem, ob nun die Lesegeschwindigkeit im Vordergrund steht oder dass Leser:innnen das Erscheinungsbild des Textes mögen, sollte man sich für einen breiteren oder schmäleren Satz entscheiden. (Vgl. Weinschenk 2011:43)
Literatur
Weinschenk, Susan. 100 Things Every Designer Needs to Know About People. Berkeley, CA: New Riders, 2011.
Den Unterschied zwischen Typeface und Font merkt man sich noch recht leicht. Doch wer (oder was) gehört zur Schriftfamilie und wie ist das Verwandtschaftsverhältnis zur Schriftsippe? Was sind Schriftfetten im Gegensatz zu Schriftbreiten und gibt es ein Reglement für Bezeichnungen von extra light über halbfett bis ultra? Wie unterscheidet man eine echte Kursive von einer unechten? Was verbirgt sich typografisch hinter dem Begriff Displays und warum sollten Grafiker:innen ein Auge für die Schriftkontur entwickeln? Fragen über Fragen, die ich als Designerin beantworten können möchte. Beschäftigt man sich mit Schrift und Typografie, ist eine detaillierte Auseinandersetzung mit typografischen Begriffen unumgänglich. Es ist wie beim Sprachenlernen: Ohne Vokabeln geht’s nicht. Deshalb möchte ich diesen Beitrag der Klärung einiger Begriffe widmen, die ständige Begleiter in der Arbeit mit Schrift sind (oder sein sollten).
1 Schrift(art), Typeface, Schriftschnitt und Font
Was wir im Deutschen mit Schrift oder Schriftart bezeichnen, heißt im Englischen Typeface. Also Helvetica ist eine Typeface. Typefaces tragen Namen und unterscheiden sich in bestimmten Designmerkmalen der Glyphen, zum Beispiel das Vorhandensein oder Fehlen von Serifen, Proportionen oder Ausrichtung von Buchstaben. Schrift(arten), also Typefaces, können unterschiedlich klassifiziert werden – dies wurde bereits näher im vorhergehenden Beitrag diskutiert. Es gibt Serifen-Typefaces und serifenlose Typefaces, dekorative Typefaces und Script-Typefaces usw. Wichtig dabei ist, dass eine Typeface alle Schriftschnitte einer Schrift meint.
Schriftschnitt, im Englischen Font, bezeichnet im Gegensatz die unterschiedlichen Ausformungen, die es von einer Typeface gibt: von leicht über normal bis halbfett und fett, von extraschmal bis extrabreit. Ein Font ist also immer ein Teil einer Typeface. Auch kursive Schnitte sind Fonts einer Typeface. Garrick Webster, Blogger von creativebloq.com erklärt den Unterschied zwischen Typeface (Schrift/Schriftart) und Font (Schriftschnitt) wie folgt: „The main difference between a ‘font’ and a ‘typeface’ is that the former exists as part of the latter. Helvetica is a typeface – a complete set of sans serif characters with a common design ethos. However, it is made up of a whole collection of fonts, each in a specific weight, style and size, with different levels of condensation as well as italic versions.“
Friedrich Forssman verwendet den Begriff Font nur für den digitalen Schriftsatz. Er schreibt dazu: „In digitalen Schriftdateien ist jeweils ein Schriftschnitt in einem Font abgelegt. […] Darunter sind auch interne Steuerungszeichen, wie die Anweisungen für den Wortzwischenraum oder einen Zeilenwechsel […]“. (vgl. 2004:49). Obwohl die Begriffe Typeface (Schrift/Schriftart) und Font oft synonym gebraucht werden, verwenden wir sie in ihrer Anwendung automatisch richtig – da Desktop-Publishing-Programme auf deren korrekte Anwendung ausgelegt sind. Zuerst wählen wir eine Schrift (Typeface) aus und danach stellen wir den gewünschten Schnitt (Font) in einer bestimmten Schriftgröße ein, erklärt Garrick Webster von Creative Blog weiter: „The reason we focus on fonts today is largely as a result of desktop publishing and word processing applications, which have a font menu. When you click it, you get a list of typefaces to choose from – Arial, Baskerville, Caslon etc – and from there you set the specifics of the font – Medium Italic 16 point, for example.“
2 Schriftfamilie versus Schriftsippe
Die Ausgangsschrift jeder Typeface ist in der Regel die Normale. Abgeleitet von diesem normalen Schriftschnitt gibt es noch weitere Schriftschnitte – zum Beispiel einen leichten, halbfetten oder fetten Schriftschnitt. Auch die Kursive ist eine Ableitung der Normalen. All diese Schnitte gemeinsam bilden eine Schriftfamilie. Dass eine Schriftfamilie aus mehreren Schnitten besteht ist für komplexere typografische Arbeiten Voraussetzung, da man für Auszeichnungen innerhalb des Textes, für Überschriften oder zur Kennzeichnung unterschiedlicher Textebenen mehrere Schnitte benötigt (vgl. Forssman 2004:59).
Bei manchen Schriften existiert neben der Schriftfamilie mit ihren unterschiedlichen Schnitten auch noch eine Schriftsippe. Eine Schriftsippe hat mehrere Ausgangsschriften, also mehrere Normale: ohne Serifen, mit Serifen oder noch eine weitere mit extra betonten Serifen. Von manchen Schriften gibt es, zum Beispiel, eine Serif-Variante, eine Grotesk sowie eine Semi-Serif-Variante, also eine Schriftfamilie, bei der die Buchstaben an manchen Endungen Serifen aufweisen und an manchen nicht. Gemeinsam bilden die drei Schriftfamilien eine Schriftsippe. Die Ausgangsschriften einer Schriftsippe werden durch ihre stilistische Übereinstimmung zusammengehalten. Die Rotis von Otl Aicher oder die Thesis von Luc de Groot wären Beispiele für solche Schriftsippen (vgl. Forssman 2004:66).
Eine einzelne, gut ausgebaute Schriftfont enthält Groß- und Kleinbuchstaben sowie Kapitälchen, Satzzeichen, Ziffern, Ligaturen, Akzentbuchstaben sowie Akzente. Darüber hinaus sind oft mathematische und physikalische Zeichen, Währungszeichen und andere Sonderzeichen und einige griechische Buchstaben im Font enthalten. Nachfolgend möchte ich nun die einzelnen Mitglieder einer Schriftfamilie näher betrachten.
3 Mitglieder einer Schriftfamilie
Wie bereits erwähnt, bildet die Normale die Ausgangsschrift einer Schriftfamilie. Von ihr stammen die restlichen Mitglieder ab.
Die Kursive
Die klassische Auszeichnungsschrift zur aufrecht stehenden Antiqua ist die Kursive. Forssman und de Jong nennen sie auch die „Schwester“ der Normalen (2004:59). Kursive Varianten gibt es bereits seit dem frühen 16. Jahrhundert als Satzschriften. Anfangs war die Kursive weniger als Ergänzung, sondern als Alternative zur Normalen gedacht. Es dauerte aber nur kurze Zeit, bis die beiden aufeinander abgestimmt zur gemeinsamen Verwendung geschnitten wurden. Die Kursive leitet sich von der flüssig zu schreibenden Kurrentschrift ab. Ihr entscheidendes Merkmal ist der handschriftliche Duktus, also die Art der Linienführung, in der der Schwung der federgeschriebenen Kurrentschrift erhalten bleibt. Innerhalb der Kursiven gibt es Varianten, die stark geneigt sind und andere, die nahezu aufrecht scheinen. Prinzipiell unterscheidet sich die Kursive von der Normalen neben dem Duktus auch durch die Farbe, also den Grauwert den der kursive Text aufweist. In Bezug auf die Auszeichnung des Textes wird die Kursive traditionell für kurze Zitate, Titel sowie fremde Sprache verwendet.
Echte Kursive versus unechte Kursive
Wie eingangs erwähnt gibt es echte und unechte kursive Schriften. Während die echte Kursive eine eigens gezeichnete Schrift ist, wird die unechte lediglich elektronisch „kursiviert“ – also der normale Schriftschnitt einfach schräggestellt. Diese Möglichkeit bieten nahezu alle Textprogramme, sollte im professionellen Satz aber vermieden werden, weil das Ergebnis zumeist unschön ist. Echte Kursive unterscheiden sich also stark von unechten. Das liegt auch daran, dass einige Buchstaben der echten Kursiven andere Formen haben:
Das kursive a hat meist keinen Bauch.
Im kursiven e verschmelzen Rundung und Querbalken.
Das kursive f hat eine Unterlänge.
Das kursive g hat oft eine anders geformte Unterlänge als das gerade.
Jedoch weisen nicht alle Kursiven alle diese Merkmale auf (vgl. Forssman 2004:59).
Des Weiteren gibt es kursive Schriften, die nicht aus kursiven Formen – wie oben beschrieben – aufgebaut sind. Diese bezeichnet man nicht als echte Kursive, sondern als geneigte Schriften oder oblique. Im Englischen werden sie auch slanted oder slope roman genannt. Oblique-Schriften sind keine elektronisch verzerrten Schriften, sondern Normale, die durch die Schriftgestalter:innen kontrolliert geneigt wurden. Die Strichstärken und Kurvenverläufe sind so bearbeitet, dass unerwünschte Verdickungen korrigiert sind.
Alternate Fonts und Zierbuchstaben
Für manche Schriften gibt es alternative Buchstabenformen, zusätzliche Ligaturen und Schmuckelemente. Diese sind in eigenen Fonts, also eigenen elektronischen Schriftdateien untergebracht und werden als alternate fonts bezeichnet. Bei Kursiven bezeichnet man alternative Buchstaben auch als Zierbuchstaben (vgl. Forssman 2004:62). Bei vielen Schriften nehmen diese alternativen Buchstaben sehr üppige Formen an, weshalb sie nur selten und oft nur am Anfang oder Ende von Worten verwendet werden können. Für längere Texte sind ausgefallene Buchstaben nicht geeignet – für Titel eignen sie sich jedoch gut und bieten sparsam eingesetzt eine einfache Möglichkeit für reizvolle Kontraste.
3.3 Ligaturen
Ligaturen sind Zeichen, die aus mehrere verbundenen Buchstaben bestehen. Sie sollen störende Lücken vermeiden und betonen im Deutschen zudem Lauteinheiten. Deshalb sind Ligaturen vor allem bei zwei aufeinanderfolgenden Buchstaben mit Oberlänge häufig (f,l,i,t), da ohne Verbindung eine unschöne Lücke zwischen den Oberlängen entstehen würde.
Ligaturen können in allen Sprachen gesetzt werden. Ausnahmen bilden im Deutschen Wortfugen, also der Übergang zwischen zusammengesetzten Worten, zum Beispiel zwischen „Stoff“ und „Igel“ bei „Stoffigel“. Auch wenn die Laufweite vergrößert wird, dürfen keine Ligaturen mehr verwendet werden, da diese Buchstaben ja zusammengesetzt bleiben. Eine besondere Ligatur ist das &-Zeichen, das aus der Verbindung von e und t entstanden ist. In manchen Schriften sind im &-Zeichen diese beiden Buchstaben noch erkennbar.
Kapitälchen
Zeitgleich mit der Kursiven entstanden ebenso ab dem 16. Jahrhundert bereits die Kapitälchen: Versalien (Großbuchstaben) in der x-Höhe der Kleinbuchstaben (oder ein wenig darüber hinaus). Kapitälchen haben eine größere Laufweite (Buchstabenabstand) als normale Versalien und ihre Strichstärke wurde an die Kleinbuchstaben angepasst. Aufgrund des Unterschieds in der Zeichnung von Kapitälchen und Großbuchstaben, dürfen Kapitälchen niemals durch verkleinerte Großbuchstaben ersetzt werden. Auch wenn verkleinerte Großbuchstaben eines dickeren Schriftschnittes echten Kapitälchen oft sehr ähnlich sehen, stellen sie im korrekten typografischen Satz keine Alternative dar. In ihrer Form entsprechen Kapitälchen jedoch den Großbuchstaben, weshalb sie kein „scharfes ß“ besitzen. Wie bei Versalien muss dieses immer durch zwei „s“ ersetzt werden.
Fetten und Breiten
Leichte, halbfette, fette und schmale, breite oder extrabreite Schnitte entstanden im Gegensatz zur Kursiven und den Kapitälchen erst wesentlich später. Der Begriff Fette bezeichnet die Strichstärke, die von leicht (extramager), mager, normal bis halbfett, fett und extrafett (ultra) reichen kann – also immer „fetter“ wird. Die Breite meint die Ausdehnung der Buchstaben in ihrer Breite, also ob die Buchstaben extraschmal oder schmal, normal, breit oder extrabreit gezeichnet sind. Buchstabenbreiten können auch elektronisch verändert werden: 100 Prozent gibt dabei die vom Schriftgestalter vorgegebene Breite an, die jeweils in Prozentschritten verbreitert oder geschmälert werden kann. Diese Art der Zurichtung sollte aber vermieden werden, da sie immer zu unschönen Ergebnissen führt. Stattdessen verwendet man vorhandene schmale oder breite Schriften.
Eine der ersten Schriften, die als Systemschrift mit systematisch aufeinander abgestimmten Fetten und Breiten, jeweils aufrecht und kursiv, auf den Markt kam, war die Univers aus dem Jahr 1957.
Display-Schriften
Von vielen Schriften gibt es Text-Varianten sowie Display-Varianten. Der Grund ist, dass die meisten Schriften, die für den Einsatz in Lesegraden (circa 8 bis 12 pt) optimiert sind, in Schaugraden, also in großer Größe, nicht gut aussehen. Deshalb werden zusätzlich Display-Schnitte gezeichnet, bei denen die Proportionen und Strichstärkenkontraste für große Schriftgrößen abgestimmt sind. In der Regel sind Displays schlanker und haben elegantere Proportionen. Der Unterschied zwischen Grund- und Haarstrichen darf bei Displays größer sein als bei Textschriften, da ein zu großer Kontrast bei Lesegraden für eine schlechte Lesbarkeit sorgen würde.
Ornamente
Unter Ornamenten versteht man in der Typografie typografische Schmuckelemente, Rahmen und Linien, die passend zur Ausgangsschrift gezeichnet wurden und gut mit dieser verwendet werden können. Sie stammen aus der Zeit vor dem digitalen Satz, wurden jedoch bei manchen Schriften ebenso digitalisiert und sind in der Font-Datei enthalten. Forssman und de Jong warnen davor, Ornamente oder Schmuckinitialen in übertriebenem Maße einzusetzen, argumentieren jedoch auch, dass mit ihnen – gezielt eingesetzt – Leichtigkeit und Eleganz vermittelt werden können. Gerade auf Verpackungen von Lebensmitteln oder Kosmetika, bei Anzeigen, Geschäftsdrucksorten oder Büchern können Ornamente den Stil der Gestaltung positiv unterstützen. Ein genaues Regelwerk gäbe es aber nicht, so Forssmann und de Jong. Nur so viel: So beweglich und bezaubernd sie sein können, müssten sie aber immer „wertvolle Untertanen des Gestaltungszusammenhanges bleiben.“ (Forssman 2004:185).
Ziffernformen
Das Wort Ziffer meint die grafischen Zeichen 0–9, die in einem Text zu Zahlen werden. Man unterscheidet einstellige und höhere Zahlen. Höhere Zahlen werden aus mehreren Ziffern gebildet, zum Beispiel 234 aus 2-3-4.
Je nach Schrift hat man zwei bis vier (manchmal sogar noch mehr) Ziffernsets zur Verfügung. Typografisch unterscheidet man:
Versalziffern (lining numerals): Ziffern auf Großbuchstabenhöhe; teils etwas kleiner
Mediävalziffern (oldstyle numerals): Ziffern auf Kleinbuchstabenhöhe, die Ziffern 3,4,5,7,9 mit Unterlänge
Kapitälchenziffern: entsprechen Versalziffern in Kapitälchengröße
In Mengentexten sollten immer Mediävalziffern zum Einsatz kommen, da sie sich gut in den Textfluss einfügen. Für kurze Texte, Titel oder in Fußnoten können auch Versalziffern zum Einsatz kommen – sobald aber ein Lesefluss entstehen sollen, sind Mediävalziffern das Ziffernset der Wahl.
Von jedem Ziffernset sollten in einer Schrift eine proportionale Variante und eine für Tabellen zur Auswahl stehen. Proportionalziffern haben – wie Buchstaben – unterschiedliche Breiten und sind für den Einsatz im Text geeignet. Tabellenziffern haben immer dieselbe Schriftbreite, weshalb sie sich gut für den Einsatz in Tabellen bzw. für einen Satz eignen, in dem die Ziffern untereinander angeordnet werden müssen.
Ergänzungszeichensätze
Für einige typografische Arbeiten sind besondere Zeichen erforderlich. Diese findet man in DTP-Programmen wie Indesign normalerweise unter Glyphen. Ergänzungszeichensätze gibt es, zum Beispiel, für den mathematischen Satz, für den Fremdsprachensatz oder den Satz phonetischer Zeichen.
Da es nur wenige Schriften gibt, die einen umfassenden Sonderzeichensatz anbieten, raten Forssman und de Jong, unbedingt noch vor der Entwurfsphase die Verfügbarkeit von eventuell benötigten Sonderzeichen zu überprüfen (vgl. 2004:64). Eine jener Schriften, die über ein sehr gut ausgebautes Repertoire an Ergänzungszeichen verfügt ist die Times – sie bietet sogar sehr viele Fremdsprachenfonts an, was gerade in Übersetzungsfällen praktisch ist.
Anmerkung: Schriftbezeichnungen innerhalb der Schriftfamilie
Die Bezeichnungen der verschiedenen Schriften einer Schriftfamilie unterliegen keiner Regel – eine Schrift, die von einem Schriftgestalter als „fett“ verkauft wird, empfindet ein anderer vielleicht nur als „halbfett“. Darüber hinaus werden unterschiedliche Bezeichnungen für denselben Schnitt verwendet. Forssman und de Jong stellen eine Übersicht über die gängigsten Bezeichnungen auf Deutsch, Englisch und Französisch zur Verfügung (vgl. Forssman 2004:65).
Anmerkung: Schriftenhersteller
Da sich Schriften mit gleichem Namen von verschiedenen Herstellern erheblich unterscheiden können, setzen viele Schriftenhersteller ihren Namen oder ein Buchstabenkürzel vor oder nach die Bezeichnung der Schrift, um identifiziert werden zu können. So stehen beispielsweise ein „A“ für Adobe Systems Inc., „ATF“ für Kingsley/American Typefounders Type Corp., „ITC“ für International Typeface Corporation oder „MT“ für Monotype Corporaten. Eine Liste der bekanntesten Schrifthersteller findet sich in Forssmanns und de Jongs Detailtypografie.
4 Die Schriftkontur
Ein Großteil der Schriften, die man für den Digitalsatz kaufen kann, sind keine neuen Entwürfe, sondern basieren auf bestehenden Schriften. Viele dieser Ursprungsschriften gehen noch auf den Handbleisatz zurück, wurden für den Maschinensatz zugerichtet, dann für die Fotosatzmaschine umgearbeitet und schlussendlich erst digitalisiert. Bei jeder dieser Stationen war es notwendig, Anpassungen für die technischen Verhältnisse vorzunehmen – und jedes Mal musste die Schriftkontur interpretiert und neu gezeichnet werden. Viele dieser Anpassungen betrafen wichtige Bereiche wie die Zurichtung der Schrift (Dicktenausgleich) oder die Proportionen zwischen x-Höhe und Ober- und Unterlänge. Dadurch kann es passieren, dass Schriften, die nicht sorgfältig digitalisiert wurden, viel an ursprünglicher Eleganz und Präzision verloren haben. Forssman und de Jong argumentieren, dass solche Schriften in Lesegraden womöglich noch gut funktionieren, sich die Fehler in der Schriftkontur jedoch in Displaygrößen offenbaren. Als Grafiker:innen sollten man deshalb ein Auge für die Schriftkontur entwickeln und je nach Einsatz entscheiden, ob sich eine Schrift eignet oder ob etwaige Mängel sogar ihren Reiz haben.
5 Das typografische Maßsystem
Das typografische Maßsystem hat sich über mehr als zwei Jahrhunderte zur Zeit des Handbleisatzes entwickelt. Darauf folgten die Linotype- und Monotype-Satzmaschinen, danach die kurze Zeit der Fotosatzmaschine und schlussendlich der Siegeszug des digitalen Satzes. Der Punkt ist die Einheit des typografischen Maßes und wurde über die zuvor genannten Etappen immer wieder neu definiert. Heute existieren drei unterschiedliche Punkte:
Fournier-Punkt
Didot-Punkt
Pica-Point
Der Punkt ist als Angabe für die Schriftgröße und den Zeilenabstand nach wie vor von Bedeutung. Alle anderen Maße werden heute mit dem metrischen Maßsystem, also in Zentimeter oder Millimeter, angegeben.
In Europa entwickelte sich von Frankreich aus zuerst der Fournier-Punkt und in der Folge der Didot-Punkt. Im 19. Jahrhundert boomten in Amerika die Schriftgießereien, was zur Einführung des amerikanischen Pica-Points führte. Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Pica-Point von britischen Druckern übernommen und seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist er das Standardmaß für Schriftgrößen und Zeilenabstände im gesamten Computersatz. Wer heute also Punkt sagt oder pt schreibt, meint den Pica-Point.
Schriftgrad vs. Schriftgröße
Der Begriff Schriftgrad stammt aus dem Bleisatz und meint die unterschiedlich großen Ausführungen einer einzelnen Schrift. Bei den Zeichnungen der Schriftgraden wurden die Unterschiede in der optischen Wahrnehmung und die technischen Anforderungen des Drucks von sehr kleinen und sehr großen Schriften berücksichtigt. Aus diesem Grund unterscheiden sich die Zeichnungen für kleine und große Grade deutlich.
Im Gegensatz dazu kennt der Digitalsatz keine individuell gezeichneten Schriftgrade. Kleine und große Schriften werden aus derselben Schriftkontur erzeugt, d.h. digitale Schriften werden linear vergrößert oder verkleinert. Deshalb sprechen wir heute nicht mehr von Schriftgraden, sondern von Schriftgrößen. Die stufenlose Vergrößerung ist praktisch, hat aber andererseits den Nachteil, dass Schriften eigentlich nur in den für sie vorgesehenen Größen gut aussehen. Für dieses Problem gibt es heute zwei Lösungen: Die gängigere Lösung sind zusätzlich zu den Text-Schriften vorhandene Designgrößen der Schriften – beispielsweise Display- oder Titling-Varianten. Adobe Systems bietet häufig bereits vier Designgrößen an:
Caption (6–8 pt)
Regular (9–12 pt)
Subhead (14–24 pt)
Display (25–72 pt)
Die zweite Lösung sind Variable Fonts – eine Weiterentwicklung der komplexen Multiple Master-Schriften, mit denen bereits in den 1990ern Schriftgrößen entlang von Design-Achsen stufenlos verstellbar waren. Je nach Konzeption bieten Variable Fonts die Möglichkeit Schriften entlang von unterschiedlichen Designachsen linear zu interpolieren. Dies betrifft nicht nur die Schriftgröße, sondern kann auch Breite, Fette, Neigung und Strichtstärkenkontrast betreffen. Während man bei herkömmlichen Schriften für mehrere Schnitte auch mehrere Schriftdateien installieren muss, besteht eine Variable Font aus nur einem Font File, in die die variablen Interpolationsachsen integriert sind (vgl. Beinert 2021).
Pica-point und DTP-Punkt
Nimmt man es genau, unterscheidet sich der heute im Digitalsatz verwendete Punkt nochmals vom Pica-Point – er ist eine leicht modifizierte Variante des Letzteren und wird oft auch DTP-Punkt genannt. Der Unterschied zum Pica-Point wird jedoch erst ab der dritten Kommastelle sichtbar. Wie zuvor bereits erwähnt, wird der DTP-Punkt nur mehr für die Schriftgröße und den Zeilenabstand verwendet. Satzbreite, Seitenränder und Papierformat werden in Europa in Millimetern angegeben.
Schriftgröße vs. Schriftbild
Im Bleisatz bezeichnete der Schriftgrad die Größe des Schriftkegels, dem Metallklötzchen, auf das das zu druckende Zeichen gegossen wurde. Da aus technischen Gründen das Zeichen immer etwas kleiner sein musste als der Kegel, gab der Schriftgrad nur mittelbar die Größe des Schriftbildes an – aber immerhin. Im digitalen Satz gibt es nur virtuelle Kegel, deren Verhältnis zur Größe des Schriftbildes jedoch nicht festgelegt ist. Im Digitalsatz, in dem wir heute alle arbeiten, kann das Verhältnis zwischen virtuellem Kegel und Schriftbildhöhe also variieren: die Schriftbildgröße kann wie im Bleisatz etwas kleiner sein als der Kegel, genau gleich groß oder den Kegel sogar überragen. Obwohl Schriften im digitalen Satzsystem mit derselben Schriftgröße gesetzt werden und damit nominell gleich groß sind, können sie sich optisch stark unterscheiden. Damit hat die Schriftgröße in Punkt bei digitalen Fonts eigentlich wenig Aussagekraft. Fazit: Es gilt immer die tatsächliche Größe des Schriftbildes zu messen.
Versalhöhe, Vertikalhöhe, x-Höhe und Schriftlinie
Für die Versalhöhe wird die Höhe der Großbuchstaben ohne Versalakzente (also E und nicht É) gemessen. Für das Maß bietet sich das H mit seiner geraden Ober- und Unterseite an. Das O ist aus optischen Gründen immer etwas höher als das H. Die Vertikalhöhe meint die maximale vertikale Ausdehnung der Schrift – ebenfalls ohne Versal-Akzente, aber einschließlich aller Ober- und Unterlängen der Kleinbuchstaben. Mit der x-Höhe misst man die Basishöhe der Kleinbuchstaben, zum Beispiel die Höhe des kleinen x mit seinen geraden Abschlüssen. Die Schriftlinie bezeichnet die Linie, auf der die Buchstaben (ohne Unterlänge) sitzen.
6 Begriffe der Schriftbearbeitung: Zurichtung, Kerning, Laufweite (Spacing), Randausgleich
Sich das Regelwerk der Schriftbearbeitung in diesem Beitrag genauer auszusehen, würde den Rahmen sprengen. Trotzdem möchte ich abschließend noch kurz auf Begrifflichkeiten eingehen, um die man in der typografischen Arbeit nicht umhinkommt. Damit eine Schrift gut aussieht, müssen nicht nur die einzelnen Buchstabenformen sorgfältig gezeichnet oder digitalisiert worden sein, sondern auch der Rhythmus der Zeichen muss stimmen. Dieser Rhythmus hängt von der Zurichtung, dem Kerning und der Laufweite ab. Treffen zudem unterschiedliche Schriftgrößen aufeinander, muss auch der Randausgleich beachtet werden.
Die Zurichtung
Die Zurichtung einer Schrift beschreibt ihren Dicktenausgleich. Das Festlegen einer bestimmten Breite für jedes Zeichen und die Position des Zeichens innerhalb dieser Breite nennt man Zurichten. Zurichtung ist Aufgabe der Schriftgestalter:innen bzw. Schrifthersteller – wenn die Zurichtung der Schrift nicht gut ist, ist sie nicht verwendbar.
Kerning
Kerning meint das Ausrichten von Zeichenpaaren. Der deutsche Begriff ist Unterschneiden und meinte ursprünglich im Bleisatz das Engermachen von Zeichenpaaren durch das Wegschneiden von nichtdruckenden Teilen. Im digitalen Gebrauch kernt man durch die Eingabe von Minus- oder Pluswerten, wodurch die jeweiligen zwei Zeichen auseinander oder zusammenrücken. Kerning hat grundsätzlich zwei Aufgaben: Da Buchstaben unterschiedliche Formen haben, würden manche Paar-Kombinationen zu eng oder zu weit sitzen. Hier muss durch Unterschneiden entgegengewirkt werden. Die zweite Aufgabe ist das Spationieren von Interpunktion. Interpunktionszeichen sitzen oft viel zu eng an den Buchstaben. Das kann auch bei eigentlich gut gekernten Schriften der Fall sein, weshalb es sich auch als Grafiker:in lohnt, sich näher mit Kerning zu beschäftigen.
Ob eine Schrift gut oder schlecht gekernt ist, erkennt man an unterschiedlichen Zeichenkombinationen:
zu eng stehende Buchstaben – typisch sind „Wo“, „To“ oder „Te“
sich berührende Buchstaben – typisch sind „fk“, „fh“, „(j“, „f)“, „f?“ oder „fä“
zu eng stehende Kombinationen aus Buchstaben und Satzzeichen – zum Beispiel „l!“ oder „g:“
gute Musterzeile zur Kontrolle: Aufhalten (ja auf) Wolf? Torf Tell!; fährt.
Obwohl man in DTP-Programmen die Möglichkeit hat, das Kerning einer Schrift zu verändern, sollte man in der Praxis besser auf gut gekernte Schriften setzen und das Kerning nur im Notfall – etwa wie zuvor beschrieben bei wirklich zu eng stehenden Interpunktionen – bedienen.
Laufweite
Die Laufweite meint den generellen Buchstabenabstand – also nicht nur von zwei Zeichen wie beim Kerning, sondern zwischen allen Zeichen. Abhängig von der Laufweite haben die Buchstaben eher viel Abstand oder die Schrift läuft gegenteilig eher eng. Die Laufweite kann in Satz- oder Layoutprogrammen durch die Eingabe von positiven oder negativen Werten leicht beeinflusst werden, was durchaus häufig von Nöten ist. Viele Schriften benötigen eine Laufweitenkorrektur abhängig von ihrer Schriftgröße. Die Faustregel nach Forssman und de Jong lautet hier: Kleine Schrift eher weit halten, große Schrift eher eng (vgl. 2004:93).
Randausgleich
Durch die verschiedenen Buchstabenformen und Satzzeichen ergibt es sich, dass die linke Satzkante im Flattersatz und zusätzlich auch die rechte Satzkante im Blocksatz etwas unruhig wirken. Beispiele hierfür: Ein „T“ oder ein Gedankenstrich „–“ am Zeilenfang bringen einen gewissen Weißraum mit, ein Trennstrich oder ein Punkt am Zeilenende haben weniger Substanz als ein „d“ oder ein „l“. In DTP-Programmen kann man einen Randausgleich einstellen. Dies bedeutet, dass man für bestimmte Zeichen wie „T“ oder „–“ Werte festlegt, damit diese ein wenig über die rechte oder linke Satzkante hinausgeschoben werden. Das individuelle Setzen des Randausgleichs erfordert Fingerspitzengefühl und kann auch zu schlechteren Ergebnissen führen als ein Satz ohne Randausgleich. Für Forssmann und de Jong ist er deshalb in der Regel verzichtbar. (Anzumerken ist jedoch, dass es in gewissen DTP-Programmen wie Indesign die Möglichkeit des optischen Randausgleichs gibt, was auf relativ einfachem Wege den Blocksatz schöner ausrichtet.)
Der Versuch, die Vielfalt von Schriftarten zu überblicken
In den letzten drei Beiträgen habe ich mich eingehend mit der historischen Entwicklung der Typografie befasst – vorwiegend mit jener im deutschsprachigen Raum. Die hat deutlich gemacht: Der Stil einer Schrift kann nur schwer losgelöst von ihrem Entstehungskontext betrachtet werden. Gesellschaftliche und technologische Entwicklungen beeinflussen Grafikdesigner:innen und Typograf:innen und damit die Entstehung und den Einsatz von Schrift. Solange Lettern aus Holz geschnitten wurden, waren wirklich exakte Formen unmöglich. Mit der Erfindung der Bleilettern konnten Setzer die Haarlinien verfeinern und Serifen deutlicher herausarbeiten. Neben der Technik war und ist es auch der Zeitgeist, der das Aussehen von Schriften über die Jahrhunderte prägte und es auch heute noch tut. Didot-Schriften, zum Beispiel, zeichnen sich durch stark betonte Grundstriche und extrem feine Haarstriche aus. Sie sind elegant und spiegeln den strengen und intellektuellen, aber feinen Stil des Klassizismus mit seinen griechischen und römischen Vorbildern wider. Im Kontrast dazu wurden im 19. Jahrhundert mit der industriellen Revolution die Egyptienne-Typen (engl. Slab Serif) populär – ihre kräftigen, eckigen Serifen und robuste Form zeugen von der Kraft und Funktionalität der Maschinen (vgl. Gautier 2009:50).
Warum eine Schriftklassifikation?
Beginnt man sich näher mit Schrift und Typografie zu beschäftigen, scheint einen der Umfang dieses Themas nahezu zu erschlagen. Alleine sich in der Unendlichkeit von verfügbaren Schriften zurechtzufinden wirkt wie eine Mammutaufgabe. Angesichts dessen und wohl um das Wesen der Typografie greifbarer zu machen, haben zwei Typografen Klassifikationen erstellt, die Schriften zu Schriftarchetypen zusammenfassen: die Thibaudeau-Klassifikation und die Vox-ATypI-Klassifikation. Letztere wurde von der Association Typografique Internationale (ATypI = Internationale Gesellschaft für Typografie) übernommen. Auch die heutige Schriftklassifikation des Deutschen Instituts für Normung, der DIN 16518, ist an diese Klassifikation angelehnt. In der Folge gab es immer wieder Typografen, die sich mit der Klassifikation von Schriften auseinandersetzten – u.a. Hans Peter Willberg, der eine Weiterentwicklung der DIN-Norm vorschlug.
Von Thibaudeau zu Vox
1921 schlug Francis Thibaudeau eine Schriftklassifikation nach Serifen vor, die vier Klassen umfasst:
Klasse 1: Elzèvirs
Klasse 2: Didots
Klasse 3: Égyptiennes
Klasse 4: Serifenlose Antiqua-Schriften
Diese Klassifikation schien jedoch nicht die Vielfalt der unterschiedlichen Schriftarten abzubilden, weshalb Maximilien Vox 1952 eine Einteilung in elf Klassen vorschlug. Seine Klassifikation beruht auf Kriterien, die zumeist für eine bestimmte Epoche typisch waren: die Art der Grund- und Haarstriche, die Neigung der Buchstabenachse und die Serifenform.
Viele Schriften weisen Charakteristika aus zwei oder mehreren der nachfolgend vorgestellten Klassen auf. Aus diesem Grund halten viele Grafiker:innen eine Schriftklassifikation für umstritten oder obsolet. Für mich liegt der Vorteil in einer Klassifikation vor allem in der Möglichkeit, sich einen Überblick über die komplexe Vielfalt der Schriften verschaffen zu können. Auch wenn ich selbst im täglichen Umgang mit Typografie festgestellt habe, dass eine klare Zuordnung oft schwierig ist, empfinde ich es als Mehrwert, über die einzelnen Klassen und ihren historischen Ursprung Bescheid zu wissen. Aus diesem Grund möchte ich nun nachfolgend näher die Klassifikation der DIN-Norm 16518 sowie auch den Ansatz von H.P. Willberg vorstellen.
Schriftklassifikation nach DIN-16518
Die DIN-Norm legt elf Schriftklassen fest.
1 Venezianische Renaissance-Antiqua (Entstehung ab 1450)
Diese zeitlich erste Antiqua-Klasse zeichnet sich durch folgende Charakteristika aus:
kräftige Serifen
nach links geneigte Schattenachse (= Buchstabenachse)
relativ große Ober- und Unterlängen
schräger Innenbalken des e
2 Französische Renaissance-Antiqua (Entstehung im 16.Jhr.)
Charakteristika:
ebenfalls nach links geneigte Schattenachse
ausgerundete Serifen = stärkere Rundung von Grundstrich zu Serife
teilweise waagrechter Innenbalken des e
Oberlänge der Kleinbuchstaben meist etwas länger als Höhe der Versalien
3 Barock-Antiqua (Entstehung im Barock / ab Ende des 16.Jhr.)
Die Barock-Antiqua wird auch Übergangs-Antiqua oder vorklassizistische Antiqua genannt, da sie ein Bindeglied zwischen den Renaissance-Antiqua-Schriften und den sehr geplanten klassizistischen Antiqua-Formen bildet.
Charakteristika:
der Kontrast zwischen Grund- und Haarstrichen verstärkt sich, da durch die Erfindung des Kupferstichs noch feinere, präzisere Formen möglich waren
nahezu und teils vollkommen senkrechte Schattenachse
feinere und flachere Serifen; Rundung von Serifen zu Grundstrichen nimmt ab
waagrechter Innenbalken des e
Die Barock-Antiqua hat eigentlich kein opulent-barockes Auftreten, sondern sorgt für eine Beruhigung des Schriftbildes.
4 Klassizistische Antiqua („Didots“) (Entstehung um 1800)
Charakteristika:
Kontrast zwischen Grund- und Haarstrichen besonders ausgeprägt: stark betonte Grundstriche und extrem feine Haarstriche
senkrechte Schattenachse
kaum Rundungen zwischen Serifen und Grundstrichen
geplante und durchdachte Schriften; die Buchstabenformen lassen Vorbilder der griechischen und römischen Architektur erkennen
5 Serifenbetonte Linear-Antiqua (Slab Serif / Egyptienne) (Entstehung ab Beginn des 19. Jhr.)
Charakteristika:
starke und auffallende Betonung der Serifen
robuste Buchstabenformen: Grund- und Haarstriche haben nahezu dieselbe Stärke
keine Rundungen zwischen Serifen und Grundstrichen
Slab Serif-Schriften spiegeln mit ihren auffallenden, starken Formen den Beginn des industriellen Zeitalters und die Kraft der Maschinen wider.
6 Serifenlose Linear-Antiqua (Grotesk / Sans Serif) (Entstehung ab Beginn des 19. Jhr.)
Charakteristika:
keine Serifen
oftmals gleichmäßige Strichstärke, d.h. wenig bis kein Kontrast zwischen Grund- und Haarstrichen
horizontale und vertikale Geraden
Die Grotesk wurde ursprünglich als auffallende, „plakative“ Schrift für Akzidenz- und Werbezwecke entwickelt. Heute umfasst diese Klasse sehr viele unterschiedliche Schriften, was wiederum eine Unterklassifizierung erfordern würde. Einige Grotesken basieren etwa auf der klassizistischen Antiqua (z.B. Akzidenz, Univers), andere auf der Renaissance-Antiqua (z.B. Lucida-Sans, Syntax). Parallel entstand in den USA auch die Amerikanische Grotesk (z.B. Franklin Gothic). Ab dem 20. Jahrhundert entstanden die konstruierten Grotesken, die sehr geometrische Formen aufweisen (z.B. Futura).
7 Antiqua-Varianten
In diese Klasse fallen alle Antiqua-Schriften, die keiner der Strichführungen der anderen Klassen zugeordnet werden können. Sie zeichnen sich oftmals durch Charakteristika mehrerer Klassen aus oder haben bestimmte Strichführungen bzw. Besonderheiten, die Regeln bisheriger Kategorien brechen.
8 Schreibschriften (Scripts)
Charakteristika:
miteinander verbundene Buchstaben
grundsätzlich alle Schriften, die die Wirkung einer heutigen Schreibschrift nachahmen
Schreibschriften gab es bereits zu Bleisatz-Zeiten, jedoch wurden sie vor allem durch die Verwendung von Schriften am Computer populär, um dem digitalen Druckzeug eine handschriftliche Note zu verleihen.
9 Handschriftliche Antiqua
Diese Klasse fasst alle Schriften zusammen, die handschriftliche Züge aufweisen, jedoch keine gebundene Schrift erzeugen – also die Buchstaben sind nicht miteinander verbunden wie das bei Schreibschriften der Fall ist.
10 Gebrochene Schriften
Gebrochene Schriften zeichnen sich durch ganz oder teilweise gebrochene Bögen der Buchstaben aus, die einen abrupten Richtungswechsel in der handschriftlichen Strichführung nachahmen. Eine Besonderheit liegt zudem im langen s, das vor allem in der deutschen Sprache verwendet wurde. Gebrochene Schriften waren hauptsächlich im deutschsprachigen Raum verbreitet. In der Mitte des 12. Jahrhunderts entwickelte sich in Europa die Gotik, was sich in der Architektur durch den Übergang von romanischen Rundbögen zu gebrochenen gotischen Spitzbögen zeigte. Dieser Bruch wurde daraufhin auch in der Minuskel-Buchschrift imitiert. Dadurch entstand aus der runden karolingischen Minuskel die gebrochene gotische Minuskel.
Von der DIN-Norm werde gebrochene Schriften in fünf Unterkategorien unterteilt:
Gotisch (Textura) – ursprünglich eine Buchschrift für Manuskripte, später eine Satzschrift
Rotunda (Rundgotisch) – ebenso zuerst eine Buchschrift für Manuskripte, später eine Satzschrift
Schwabacher – Satzschrift
Fraktur – Satzschrift
Fraktur-Varianten – Satzschrift(en)
Durch den Normalschrifterlass 1941 wurden die gebrochenen Schriften aus den Lehrplänen und dem offiziellen Schriftgebrauch verbannt.
11 Nichtlateinische (fremde) Schriften
Fremde Schriften sind nach der deutschen DIN-Norm jene, die sich nicht des lateinischen Alphabets bedienen. Beispiele: Chinesisch, Koreanisch, Kyrillisch, Arabisch, Griechisch, Hebräisch
Diesen elf Klassen fügen Damien und Claire Gautier auch noch die Klassen der Fantasieschriften und der wandlungsfähigen Schriftenhinzu. Zu Fantasieschriften zählen Gaultier alle Schriften, die sehr unterschiedliche, teilweise extreme Charakteristika aufweisen. Oft entstehen Fantasieschriften aus technischen Experimenten und sind vor allem für den Einsatz als Headlines oder plakative Texte gedacht. Als „wandlungsfähig“ bezeichnen sie Schriften, die auf Basis derselben Grundform gezeichnet wurden, aber verschiedenen Klassen zugeordnet werden können – also Schriften, die es als Antiqua- und Grotesk-Variante gibt, aber auch Sans Serif-Schriften, deren Strichstärken einmal gleichbleibend und ein andermal mit Kontrast auftreten (vgl. Gaultier 2009:51). Da sich die Buchstabenformen in der Regel einer der bereits genannten Klassen zuordnen lassen, stellen Monospace-Schriften keine eigene Klasse dar. Ich möchte sie aus Gründen der Vollständigkeit trotzdem an diesem Punkt erwähnen, da sie eine besondere Form aller zuvor genannten Schriften bilden: Bei Monospace-Schriften haben, wie ihr Name schon sagt, alle Zeichen exakt dieselbe Dickte. Ob H oder i, ob W oder Komma – die Breite des Zeichens ist immer dieselbe. Aus diesem Grund muten Monospate-Schriften an, als wären sie von einer Schreibmaschine getippt worden.
Kritik an der Schriftklassifikation der DIN-Norm 16518
Wie bereits erwähnt lassen sich heute viele Schriften nicht mehr eindeutig dieser historisch bedingten Klassifizierung zuordnen. Daniel Perraudin, Typograf, Grafiker und Lehrender, gibt in seiner Typografie-Vorlesung an der Fachhochschule Joanneum an, dass circa neunzig Prozent der neuentwickelten Schriften der Klasse der Grotesk zugeordnet werden müssten – obwohl sie sich in ihrem Erscheinungsbild durchaus unterscheiden.
Schriftklassifikation nach Hans Peter Willberg
H.P. Willberg war ein deutscher Typograf, Grafiker, Illustrator sowie Hochschullehrer. Sein Gestaltungsansatz prägt bis heute die grafische Schule – besonders auch die Typografie. Auch ihm schien die Schriftklassifikation nach Vox bzw. die daraus resultierende DIN-Norm als mangelhaft, weshalb er sie um eine Dimension zu erweitern versuchte. Die Form der Buchstaben, die die Grundlage für die DIN-Einteilung bildet, ergänzt er um die Dimension des Stils. Dieser kann nach Willberg dynamisch, statisch, geometrisch, dekorativ oder provozierend sein.
Die Schriftklassifikation nach H.P. Willberg ergänzt die Buchstabenform um die Dimension des Stils. Bild (c) Daniel Perraudin
Kritik an Willbergs Schriftklassifikation
Jedoch kann auch an Willbergs Klassifizierung Kritik geübt werden: Ob eine Schrift „dekorativ“ oder gar „provozierend“ sei, liegt stark im Auge des Betrachters, was eine objektive Zuordnung eigentlich nicht zulässt. Zudem scheint es gerade bei Scripts, also Schreibschriften, besonders schwierig einen eindeutigen Stil zu identifizieren.
Summa summarum
Nach eingehender Betrachtung der zuvor beschriebenen Schriftklassifikationen möchte ich nochmals festhalten: Auch wenn nicht alle und vor allem nicht neu entwickelte Schriften gänzlich einer Klasse zugeordnet werden können, bieten die vorgestellten Klassifikationen die Möglichkeit, sich in der Vielfalt an Schriften zurechtfinden und eine vorliegende Schrift auf ihr Wesen zu prüfen. Als Grafiker:innen sind wir häufig gefordert, eine oder mehrere Schriften für ein Projekt auszuwählen. Sowohl zu wissen, welchen Hintergrund eine Schrift hat und in welchem Kontext ihr Archetyp entstanden ist als auch das Bewusstsein dafür, aus welchen Gruppen überhaupt zu wählen ist, gibt (zumindest mir) ein Gefühl von Kontrolle in diesem Entscheidungsprozess. Obwohl die Typografie nicht ohne Bauchgefühl, ohne ästhetischem Auge und schon gar nicht ohne Erfahrung auskommt, muss auch die Ratio eine Rolle spielen. Die Wahl einer Schrift auch objektiv argumentieren zu können, ist essentiell. Für diese Objektivität zählen neben Lesbarkeit auch Geschichte und Stil eine Rolle: Type Designer Tré Seals ist überzeugt, dass Schriften Geschichten erzählt – viele auch politische. 2015 stellte der Amerikaner mit afroamerikanischen Wurzeln fest, dass nur circa drei Prozent der amerikanischen Designer:innen schwarz und 85 Prozent weiß waren. Diese Mehrheit war bis vor nicht allzu langer Zeit auch vorwiegend männlich, so Seals. Darin lag für ihn der Grund für die Uniformität von Webseiten – alles sah (und sieht heute noch) typografisch gleich aus. Auf seiner Webseite schreibt er: „If you’re a woman or if you’re of African, Asian, or Latin dissent, and you see an advertisement that you feel does not accurately represent your race, ethnicity, and/or gender, this is why.“ So gründete Seals seine Type Foundry Vocal Type, die mittlerweile acht Schriften im Programm hat. Alle sind mit der Geschichte von Minderheiten verknüpft – zum Beispiel, mit der Bürgerrechtsbewegung in den USA, mit der Frauenwahlrechtsbewegung oder mit den Stonewall-Unruhen, der Geburtsstunde des Gay Pride (vgl. Dohmann 2021: 68). Seals Arbeiten sind ein Beispiel dafür, dass Schriften nicht nur elegant oder witzig, minimalistisch oder opulent, sondern auch gesellschaftskritisch und (sozio-)politisch sein können. Als Grafiker:innen, die mit ihrer Gestaltung Haltung und Verantwortung zeigen wollen, sollen wir uns dessen immer bewusst sein.
Literatur
Dohman, Antje. „Types that matter“, in Günder, Gariele (Hrsg.), Page 03.21.
Gaultier, Damien und Claire. Gestaltung, Typografie etc. Ein Handbuch. Salenstein: Niggli, 2009.
1933 wurde unter dem Druck der Nationalsozialisten das Bauhaus aufgelöst. Vereine und Institutionen, die nicht mit den Rechtsradikalen kooperieren wollten, lösten sich selbst auf, zum Beispiel die Typografische Gesellschaft München. Systemkritische Dozenten der künstlerischen und grafischen Ausbildungsstätten wurden vertrieben. Paul Renner wurde als Direktor der Meisterschule für Deutsche Buchdrucker zwangspensioniert, Willi Baumeister als Lehrer für Werbegrafik und Typografie an der Frankfurter Kunstgewerbeschule entlassen und Jan Tschichold musste zuerst ins Gefängnis und ging dann ins Exil in die Schweiz. Kurt Schwitters, der den „ring neuer werbegestalter“ mitbegründet hatte, flüchtete nach Norwegen und dann nach England. Herbert Bayer, der nun Leiter der Druckerei- und Reklamewerkstatt am Bauhaus Dessau war, emigrierte in die USA. Viele weitere führende Typografen gingen ebenso ins Ausland, vor allem in die neutrale Schweiz und, wie Bayer, in die USA. Zürich und Basel sowie New York und Chicago positionierten sich ab 1933 als Zentren der „Neuen Typografie“. In London wurde die Schriftenbibliothek Monotype Corp. Lt. gegründet, die als Maßstab für westliche Werksatzschriften galt. Moholy-Nagy gründete in Chicago das „New Bauhaus“, das später zum Institute of Design wurde. Die Typografie gehörte überall zu den Grundlagen des Grafikdesigns.
Unterdessen „säuberten“ die Nazis die deutsche Typografie nach ihren Vorstellungen. Auf die Bücherverbrennungen 1933 folgte die Gleichschaltung von Verlagen und Buchhandlungen. Mit ihrer Machtübernahme erklärten die Nazis die Fraktur zu ihrer bevorzugten Drucktype – die Antiqua verschwand trotzdem nicht von der Bildfläche. Sogar Grotesktypen, die eigentlich der Inbegriff des vom Regime verabscheuten liberalen Funktionalismus waren, waren weiterhin in Verwendung. Daneben aber entstanden auch viele Schriften, die die gleichgeschaltete „volkhafte Wesensart“ widerspiegeln sollten: Tannenberg, Gotenburg, Deutschland Deutschmeister, Großdeutsch, Kurmark oder National. Im Vergleich zu älteren gebrochenen Schriften waren diese neuen Typen schnörkellos und stark vereinfacht, was eigentlich der neuen Sachlichkeit entsprach. Man nennt diese Typen deshalb auch gebrochene Grotesk oder Fraktur-Grotesk. Zudem erlebten im Nationalsozialismus die Runen als altgermanisches Alphabet ein Revival. Besonders die s-förmige Sonnen-Rune symbolisierte die Kraft des Sieges. Paarweise kennt man diese Rune heute als Zeichen der SS, alleine wurde sie aber auch als Symbol des Deutschen Jungvolkes verwendet.
Sobald die Nationalsozialisten an der Macht waren, erklärten sie die Fraktur zur Hauptschrift des Deutsches Reiches.Obwohl die als liberal eingestufte Neue Typographie von den Nazis verboten und ihre Vertreter abgesetzt wurden, besaßen auch die in der NS-Zeit gezeichneten Neune Fraktur-Schriften eine größere Sachlichkeit als ihre Vorläufer. Viele dieser Typen werden deshalb heute als Fraktur-Grotesken eingestuft.
Die totale Kehrtwende erfolgte 1941 als Adolf Hitler ein Schrift-Verdikt erließ, in dem die „jüdische“ Fraktur verboten und die „nicht-jüdische“ Antiqua zur Normalschrift des deutschen Reiches erklärt wurde. Es hieß, die gotische Schrift bestand eigentlich aus Schwabacher Judenlettern. Tatsächlich war dies mehr ein Vorwand, denn die Nazi standen vor einem anderen Problem: Mit der Ausbreitung des Dritten Reichs benötigte Hitler eine Schrift, die von allen Untertanen gelesen werden konnte, was ihn zur Rückkehr zur lateinischen Druck- und Schreibweise bewegt. Dies bedeutete das Ende der Fraktur. Doch obwohl es de facto die Nationalsozialisten selbst waren, die die gebrochenen Schriften abschafften, konnten sie sich bis heute nicht von dem schlechten Ruf befreien, der ihnen seit damals anhaftet.
Links: Das Apotheken-Signet wurde noch in Fraktur-Grotesk gesetzt und das Schweizer Kreuz bald durch die Lebensrune ersetzt. Kelch und Schlange kamen erst 1951 hinzu. | Rechts: 1941 waren es die Nazis selbst, die die Fraktur verboten – mit dem Vorwand, gebrochene Schriften würden eigentlich aus “Judenlettern” bestehen. Tatsächlich benötigten sie ein Alphabet, das alle Untertanen lesen konnten.
Entwicklungen nach dem zweiten Weltkrieg
Nach 1945 hatte man in Deutschland und Österreich zunächst wenig Gehör für den Ruf nach sachlicher Gestaltung wie sie vor dem Krieg durch die „Neue Typografie“ praktiziert worden war. Die Wirtschaft lag brach und damit auch das grafische Gewerbe. Fast alle deutschen Schriftgießereien und unzählige Verlage und Druckereien waren zerstört worden. Dennoch sehnten sich die Menschen nach Kultur und Literatur und man versuchte, dem Wunsch nach guter Lektüre so gut wie möglich nachzukommen, zum Beispiel mit den günstigen Rowohlt-Taschenbüchern, die anfangs noch auf Zeitungspapier gedruckt wurden.
Auch das Bedürfnis nach Harmonie war nach dem Krieg groß, weshalb man sich in der Typografie selbst mehr am „gefühlsbetonten“ Humanismus als am radikalen Funktionalismus orientierte. In den USA führten ehemalige Bauhäusler wie Moholy-Nagy und Herbert Bayer die sachliche Typografie weiter, in Deutschland und Österreich orientierten sich die neohumanistischen Typografen und Schriftgestalter zunächst an der Antiqua. Charakteristisch für die „neutypografische“ Gestaltung waren elegante Renaissance-Antiqua-Typen und Flattersatz, der die Komposition sanft bewegen sollte. Neben der Verwendung von bestehenden Antiqua-Schriften wurden auch zahlreiche neue Schriften gezeichnet, was dem Bedarf an schönen und gut lesbaren Werksatzschriften entgegenkam. Neben der Serifen-Antiqua entstanden im Bemühen um einen „humanen“ Charakter auch kalligrafisch inspirierte Typen. Einer der wichtigsten Schriftgestalter dieser Zeit war Hermann Zapf, der seit 1938 bei der Frankfurter Stempel AG tätig war. Von ihm erschienen u.a. die klassische Palatino, die Michelangelo, die Sistina und die zwischen Antiqua und Grotesk angesiedelte Optima, die bis heute vor allem bei Kosmetikmarken wie der kultigen Aesop beliebt ist. Die Verspieltheit der Fifties, die man heute im Kopf hat, zeigte sich nach dem Krieg vor allem in den USA, dem Kriegssieger und Land des ungebremsten Wirtschaftswachstums. Im Laufe der 50er sah man aber auch in der deutschsprachigen Werbung mehr und mehr buntes Treiben. Für die vielen Illustrierten brauchte es dekorative Akzidenztypen, was einerseits zum Revival der Egyptienne führte, andererseits zur Entstehung schwungvoller Schreibschriften und Pinselschriften nach US-Vorbild.
Während man in den Ländern der Siegermächte das heute bekannte Fifties-Design entwarf, orientierten sich deutsche Typografen am Humanismus und suchten Eleganz mit Antiqua-Schriften.Einer der wichtigsten Schriftgestalter des Neo-Humanismus war Hermann Zapf, dessen Optima – eine Mischung aus Antiqua und Grotesk – noch heute beliebt ist. Beispiel unten: Logo der heutigen Beauty-Marke Aesop.
Aufgrund der aus Deutschland emigrierten Typografen, etablierte sich die vor dem zweiten Weltkrieg entstandene „Neue Typografie“ vor allem in der neutralen Schweiz und konnte dort auch während dem Krieg betrieben werden. Ab circa 1955 entwickelte sich auf Grundlage der bereits existierenden elementaren Gestaltungsrichtlinien die „Schweizer Typografie“. Charakteristisch für diese sind bis heute die Verwendung von Grotesk-Schriften und Gestaltungsrastern, eine asymmetrische sachliche Komposition, viel Weißraum und der Verzicht auf alle nicht notwendigen Schmuckelemente. Bekannte Typografen, die den „Swiss Style“ prägten, sind u.a. Max Bill, Adrian Frutiger, Max Miedinger und Josef Müller-Brockmann. Auch in der Entwicklung neuer Grotesk-Schriften waren die Schweizer Gestalter aktiv: Frutiger veröffentlichte Ende der 1950er die Grotesk-Familie „Univers“ und Miedinger schnitt 1957 nach der Vorlage der Akzidenz-Grotesk die „Helvetica“.
Swiss Style pur: 1957 schnitt der Schweizer Max Miedinger nach dem Vorbild der 1898 herausgegebenen AG die Helvetica.
Mit der Zeit fiel die moderne Schweizer Typografie auch in Deutschland wieder auf fruchtbaren Boden – vor allem bei jüngeren Gestaltern wie Anton Stankowski, Herbert Kapitzki oder den Herausgebern der funktionalistisch gestalteten Zeitschrift „magnum“ von Karl Pawek und Alfred Neven DuMont. Auch Günter Gerhard Lange war einer der Typografen, die den Grotesken, allen voran der Akzidenz-Grotesk, wieder zum landesweiten Durchbruch verhalfen. Günter Lange war viele Jahre künstlerischer Leiter der Berthold AG, die bereits 1898 die AG herausgegeben hatte und gilt bis heute weltweit als einer der einflussreichsten Schriftgestalter und Unterstützer von Schriftqualität. 1961 schuf er die Berthold-Schriftenbibliothek, die mit ihrer Präzision für eine neue Qualität im Bereich Titel- und Werksatzschriften sorgte.
Die Schweizer Typografie fand vor allem bei jüngeren deutschen Typografen Anklang – sowie auch bei den Herausgebern des magnum-Magazins, das im Gegensatz zu anderen neo-humanistisch orientierten Illustrierten funktionalistisch gestaltet war.
1953 hatten Max Bill, Otl Aicher und seine Frau Inge Aicher-Scholl in der Tradition des Bauhaus die „hochschule für gestaltung ulm“ gegründet, in der sich die anfängliche Typografie-Werkstatt im Bereich der visuellen Gestaltung weiter zur Disziplin der „Visuellen Kommunikation“ entwickelte. Wie das Bauhaus favorisierte auch die hfg ulm nahezu ausschließlich Grotesken. Ab den 1960er-Jahren setzte sich die sachliche Gestaltung schließlich auch wieder in Deutschland und Österreich nach und nach durch. Paradebeispiel der wieder auflebenden sachlich-schlichten Typografie ist das von Otl Aicher 1962 gestaltete Corporate Design der Lufthansa. Die sachlichen Gestalter der 50er und 60er wollte es mit ihren Experimenten mit Linie, Form und Farbe noch weiter treiben als ihre Vorbilder des Bauhaus. So kam es auch zu Überschneidungen mit der zeitgenössischen Op-Art – durch den künstlerischen Einsatz geometrischer Formen kam es auch in der Grafik zu völlig neuen optischen Wirkungen.
Der Designer Otl Aicher, Mitbegründer der HfG Ulm, entwarf 1962 das Logo, die Schriftart und den Schriftzug der Deutschen Lufthansa AG.
Otl Aicher gestaltete 1962 das Corporate Design der Lufthansa – sein Name steht heute noch synonym für sachlich-schlichte Gestaltung.Mit Linien, Formen und Farben trieben die sachlichen Gestalter der 50er- und 60er-Jahre ihre Experimente noch weiter als die Bauhäusler, was teilweise zu Überschneidungen mit der damaligen Optical Art führte – wie hier bei Kapitzkis Kleinplakaten für die Stuttgarter Nachrichten.
Sex, Politik und Design
Zeitgleich begann eine noch jüngere Generation an der sachlichen Gestaltung Kritik zu üben. Eine sexuell freizügige und politisch kritische Jugend setzte den Funktionalismus mit „Funktionieren“ gleich und sah in der Gestaltung keinerlei individuelle Selbstentfaltung. Ihre Antwort waren Pop-Art, Flower Power, psychedelisches Design und zugleich Nostalgie. Jüngere Gestalter lehnten jegliche Art von einengender Geometrie ab – von rechten Winkeln zum gesamten Rastersystem. Rock und Pop wurden zum Ausdruck ihres rebellischen Lebensgefühl und mit ihnen Schallplattenhüllen und Konzertplakate. Cover und Poster wurden mit bunten Farben, runden Formen und fetten Typen gestaltet. Daneben schwappte eine Nostalgiewelle über die Typografie, die die Gestaltung à la Alfons Mucha und Aubrey Beardsley und mit ihnen die romantischen Zierschriften des Jugendstils wieder aufleben ließ. Ende der 70er-Jahre brach die neue Ära des Punk-Grafikdesigns an und kurz darauf betrat Neville Brody mit dem Jugend- und Modemagazin „The Face“ die typografische Bühne. Plötzlich schien es kein typografisches Tabu mehr zu geben: „Anything goes“, sozusagen.
Hip, hipper, Hippies: Pop-Art, Flower Power und ein Revival des Jugendstils kennzeichneten die Gestaltung einer jüngeren, gegen den Funktionalismus rebellierenden Generation in den 60ern. Auch die Typen der 60er und 70er waren dementsprechend lebendig und schrill.
Neben dem Punk-Design der 70er-Jahre veränderte auch Neville Brodys Magazin “The Face” die typografische Bühne: “Anything goes” war sein Motto.
Typografie in der DDR
In der DDR-Diktatur entwickelte sich die Typografie bis in die späten 1980er Jahre nur schleppend weiter. Kultureller Austausch mit dem Westen war in den Akademien in Leipzig oder Berlin unerwünscht. Westliche Gebrauchs- und Werbetypografie galt als kapitalistisch und künstlerische Systemkritik wurde ohne Ausnahme sanktioniert. Die Typografie der DDR sollte im Kontext der Buchtypografie des späten 19. Jahrhunderts verstanden werden, d.h. sie hatte vor allem aus Perspektive des Lesens Bedeutung zu haben. So blieben die künstlerischen und technischen Bedingungen für die Typografie bis zum Ende der DDR weit hinter den westlichen zurück.
Während sich im Westen die Typen schwungvoll und schrill über Reklame, Plakate & Co. legten, lehnte man in der DDR die kapitalistische Werbetypografie völlig ab – Schrift und Druck wurden vor allem im Sinne der Lesetypografie verstanden.
Vom ersten Computer zum Desktop-Publishing
Ab 1945 entwickelte sich aus Mathematik, Elektrotechnik und Nachrichtentechnik die Informatik, die die Schrifttechnologie grundlegend verändern sollte. 1970 revolutionierte der Fotosatz erstmals den Schriftsatz. Mittels eines optischen Verfahrens mit sichtbarem Licht wurden Schriftzeichen belichtet und auf einen Trägerfilm übertragen. Typografen hatten dadurch mehr gestalterische Freiheit, da Buchstaben einer bestehenden Schrift im Druck verändert – zum Beispiel verzerrt – werden konnten. 1975 eroberte der erste Micro-Computer die USA, aus dem bald der erste PC (Personal Computer) entstehen sollte – von da an war es bis zum Desktop-Publishing nicht mehr weit. Mit der fortschreitenden Technologie ging ein Informationsboom einher, der die Typografie herausforderte, sich in allen Bereichen zu verbessern – vom Druck bis zur Schrift, die im Fernsehen gezeigt wurde. Anfang der 1980er-Jahre gründete John Warnock das Software-Unternehmen Adobe Systems. Zusammen mit Apple revolutionierten sie die Typografie mit dem Desktop-Publishing und der Software „Page Maker“ von Paul Brainard für den Apple Macintosh Computer. Der PC löste den Fotosatz ab und mit dem neuen DTP entstanden auch neue Medien, Berufe, Ausbildungsstätten und Betrachtungsweisen der Typografie. Die Schrift verließ erstmals den analogen Raum. Gestalter wie der bereits zuvor genannte Neville Brody und David Carson waren die ersten bekannten Vertreter dieses neuen digital-typografischen Ausdrucks. Ab den 1990er-Jahren wurden vorhandene Schriften vergangener Epochen digitalisiert, wodurch eine Fülle an Repliken, Remakes und Formvarianten entstanden. In dieser neuen Type-Community entstanden neue Schriftbibliotheken und Type Foundries, die ihre Schriften digital verteilten. Die Herausforderung für die Typografie im raschen Wandel der Digitalisierung lag nun darin, den Standard vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte aufrecht zu erhalten und zugleich das sich immer weiter zunehmende Potential des Digitalen auszuschöpfen.
Das Desktop-Publishing – allen voran mit Adobes Software Page Maker – revolutionierte Anfang der 1980er-Jahre die Typografie.
Mit der Entwicklung des Internets entstanden auch die ersten Web- und Screen-Typen, die nur für den Bildschirm gedacht waren. Nach Tausenden von Jahren verließ die Schrift erstmals das materielle Trägermedium und nahm nur noch virtuelle Formen an. Matthew Carter war mit seiner Verdana einer der ersten, der einen Font für das Lesen am Bildschirm entwarf.
Nach der Erfindung des Buchdrucks wurde mit der Digitalisierung der Typografie die Schrift ein weiteres Stück demokratisiert. Doch eines ist uns bis heute erhalten geblieben: Die Antiqua-Schrift, wie sie bereits in der Renaissance geprägt wurde, ist auch heute noch die verbindliche Verkehrsschrift der westlichen Welt.
Von der Industrialisierung bis zur Neuen Typografie
Maschinen-Typo: Die Industrialisierung kehrt ein
Vom 18. bis ins 20. Jahrhundert hat sich in der Typografie sehr viel bewegt. Dazu trug zunächst einerseits die industrielle Revolution bei, die die industrielle Fertigung auch in der Buchdruckerkunst einführte. Andererseits kam neben dem Werk- und Zeitungsdruck die Reklame in Schwung. In allen Bereichen musste rasch und auflagenstark gedruckt werden, was vor allem beim Zeitungsdruck zur Einführung der Rotationsdpresse führte. Die erste Variante einer solchen Druckmaschine wurde 1873 auf der Weltausstellung von der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg, der späteren MAN AG, vorgestellt. 1886 erfand der deutsch-amerikanische Ottmar Mergenthaler die Zeilensetzmaschine Linotype, die die Mechanisierung weiter in die Werkstätten der Setzer vordringen ließ. Davor waren die einzelnen Lettern und Ausschussstücke per Hand zu Zeilen zusammengesetzt worden. In den vorhergehenden Jahrhunderten hatten kleine Druckereien alle Arbeitsschritte der Drucksachenherstellung – vom Stempelschnitt bis zum fertigen Produkt – selbst übernommen. Um 1900 begann die industrielle Arbeitsteilung: Es entstanden große Schriftgießereien wie in Deutschland die Berliner Berthold AG, die andere kleine Firmen, u.a. die 1870 gegründete österreichische Poppelbaum-Gießerei, aufkaufte. Die großen Schriftgießereien konnten in hoher Geschwindigkeit gebrauchsfertige Drucktypen produzieren, was die Nachfrage der Großdruckereien auch verlangte. Diese hatten nämlich wiederum ein lesehungriges städtisches Publikum zu bedienen.
Die Linotype-Maschine, erfunden von Ottmar Mergenthaler, setzte die Buchstaben bereits maschinell zu einer Zeile zusammen und löste den Satz von Hand ab.
Quantität statt Qualität?
Obwohl das Geschäft florierte, brachte die Technisierung auch Nachteile. Über Jahrhunderte hatte sich in der Typografie ein hoher künstlerischer Anspruch an die Schrift entwickelt. Die Kalligrafie war bis dato die Grundlage für wohlproportionierte und ästhetisch ansprechende Typen der Satzschrift gewesen. Nun riss diese Verbindung ab: Die modernen Stempelschneider befreiten die in Handarbeit entstandenen Vorlagen von ihren „Ungleichmäßigkeiten“. Egal ob gebrochene Schriften oder Antiqua, alle Dickten wurden vereinheitlicht und Ober- und Unterlängen sowie Kontraste zwischen Grund- und Haarlinie nivelliert. Das Ergebnis waren Satzschriften, die allesamt ähnlich aussehen und oft viel zu dünn verliefen, um eine gute Lesbarkeit zu garantieren. Gleichzeitig gab man sich Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts dem Historismus hin und frönte typografischen Ornamenten und üppigem Akzidenz- und Auszeichnungssatz. Der Grund? Obwohl Drucksachen maschinell produziert wurden, sollten sie trotzdem wie aufwendig gestaltete Handwerkskunst aussehen. In Massen gegossene Versatzstücke wie Zierlinien, Einfassungen oder Schmuckfiguren lagen in den Setzereien bereit, um wahllos kombiniert zu werden.
Um 1900 frönten die Druckereien dem Historismus und versuchten mit massenweise produzierten verschnörkelten Versatzstücken die vergangene Handwerkskunst maschinell zu imitieren.
Das Kunstgewerbe entsteht
Der Brite William Morris war einer der ersten, die Kritik an den maschinellen Surrogaten übte. Er begründete die englische Arts and Crafts-Bewegung und bereitete damit den Weg für ein Kunstgewerbe, in dem wieder von Hand gearbeitet wurde. 1890 gründete er die Kelmscott Press, in der kostbare Werke englischer Dichter in geringer Auflage auf Handpressen gedruckt wurden. Morris studierte die Renaissance mit künstlerischem Ernst und entwickelte die Antiqua Golden Type nach dem Vorbild der Schriften des französischen Typografen Nicolas Jenson aus dem 15. Jahrhundert. Daneben schuf Morris auch die Troy Type und Chaucer Type, die Elemente der Gotik, also einer gebrochenen Schrift, und Antiqua verbanden. Viele Typografen begannen, sich wieder auf die Kunst der Typografie zu besinnen und so entstand neben der Maschinerie ein Druckergewerbe, das der Tradition der Frühdruckzeit folgte.
William Morris begründete die Arts and Crafts-Bewegung und brachte u.a. die hier abgebildete Antiqua Golden Type hervor. Entgegen dem Historismus versuchte er mit künstlerischem Ernst und tatsächlicher Handarbeit der feinen Typografie des 15. Jahrhunderts zu folgen.
Von der Jugend zum Jugendstil
Neben den Traditionalisten gab es auch jene, die nach vorne blickten, um dem Historismus mit gestalterischer Authentizität den Kampf anzusagen. Der Österreicher Rudolf von Larisch gründete die Schriftbewegung und plädierte für ein ästhetisches Gesamtbild in der Typografie. Damit stand er bereits den Idealen des Jugendstils nahe. 1896 wurde in München das Magazin „Jugend“ gegründet, das dem Stil des Art Nouveau im deutschsprachigen Raum seinen Namen geben sollte. Die Jugend forderte eine Befreiung von allem historisierenden Pomp und engagierte berühmte Gestalter wie Otto Eckmann, Peter Behrens oder Bernhard Pankok für Illustrationen, Initialen bzw. Vignetten und Randleisten. Der frische Stil sorgte für Aufsehen, was moderne Verleger dazu brachte, Jugendstilkünstler auch für die Gestaltung von Büchern zu engagieren. Um für stilistischen Gleichklang zwischen Mengensatz und Schmuckbuchstaben zu sorgen, schufen Otto Eckmann und Peter Behrens um die Jahrhundertwende jeweils eigene Jugendstil-Typen für den Fließtext. Doch eigentlich besaß Peter Behrens Schrift eine Sachlichkeit, die bereits andeutete, dass auch der anfangs so radikal wirkende Jugendstil seinen Zenit bald überschritten haben würde. Wie zuvor die Ornamente des Historismus produziert worden waren, brachten die Schriftgießereien um die Jahrhundertwende massenweise stilisierte Blütenranken und Linien im Stil des Art Nouveau hervor. Bald wurde wieder der Ruf nach mehr Schlichtheit laut, dem man jedoch erst nach dem ersten Weltkrieg wirklich nachkommen konnte.
Unterschiedliche Cover des Magazin “Jugend”, das dem Stil im deutschsprachigen Raum seinen Namen gab.Die Jugendstilschrift von Peter Behrens besaß bereits eine Sachlichkeit, die die nahende Abstraktion der Typografie schon erahnen ließ.
Mit der Werbung zur Gebrauchsgrafik
Neben der Entwicklung des Kunstgewerbes bis hin zum Jugendstil an der Wende zum 20. Jahrhundert, ist aus typografischer Sicht noch eine andere Entwicklung des 19. Jahrhunderts von Bedeutung: Jene der Werbung. Mit der Industrialisierung entdeckten Wirtschaftstreibende die Reklame für sich. 1885 schrieb die Berliner Börsenzeitung, dass „die Reklame die moderne Waffe im geistigen Kampf ums Dasein“ sei. Das größte Problem der Werbung war jedoch die gestalterische Unwissenheit der Setzer. Zeitungssetzer waren plötzlich gefordert, plakative Inserate zu gestalten und versuchten mit dem Einsatz möglichst vieler Schriften möglichst viel Aufmerksamkeit zu erzielen. Es mangelte an Auszeichnungsschriften, die sich für Werbezwecke eigneten. Diesem Bedarf nachkommend, entwickelte der Brite Vincent Figgins 1815 die Egyptienne, auf deren Basis viele weitere Schriften ihrer Art entstanden: optisch gleichbleibende Strichstärke mit blockartig gestalteten Serifen ohne Übergang. Der geometrische und kraftvolle Rhythmus der Egyptienne-Typen passte sehr gut ins Maschinenzeitalter. Zeitgleich veröffentlichte William Caslon auch die erste Grotesk-Schrift als Auszeichnungs-Type.
Die zunächst unerfahrenen Werbesetzer versuchten mit möglichst vielen Schriften Aufmerksamkeit auf ihre Inserate zu ziehen.
Die Egyptienne von Vincent Figgins war Vorbild für viele weitere Schriften ihrer Art: gleichbleibende Strickstärke und blockartige Serifen ohne Übergang.
Die zuvor beschriebene Entwicklung des Jugendstils brachte im Weiteren auch einen Gesinnungswandel in der Werbung mit sich. Ein Großteil der Seiten der Jugend war mit Reklame gefüllt. Da der Anspruch der Gestalter hoch war, wurden auch die Inserate stilistisch passend gestaltet. Das Konzept begeisterte die Leserinnen und Leser, woraufhin Wirtschaftstreibende begannen, Künstler mit der Illustration ihrer Werbungen zu beauftragen. AEG war eines der Unternehmen, das die Publikumswirkung künstlerischer Werbegestaltung früh erkannte. 1907 beauftragten sie den Architekten, Maler und Typografen Peter Behrens als künstlerischen Berater. Behrens baute für AEG in der Folge neue Fabrikanlagen, entwarf technische Produkte und gestaltete mit seiner Behrens-Antiqua alle Drucksorten – die erste Corporate Identity war geboren. Neben den Künstlern, die für die Werbung tätig wurden, entstand nun auch der Beruf des professionellen Gebrauchsgrafikers.
Mit seinem Grafik- und Produktdesign für AEG schuf Peter Behrens die erste Corporate Identity.
Abstrakte Sachlichkeit: Futurismus, Dadaismus, Konstruktivismus, De Stijl
Erst nach dem ersten Weltkrieg konnte man dem Ruf nach einer moderneren und schlichteren Typografie nachkommen. Schriftgießereien begannen nun, eine breite Palette von Werktypen bereitzustellen. Neben klassizistischen Antiqua-Schnitten rückten die Groteskschriften immer weiter in den Vordergrund. Bereits in der Kriegszeit rebellierten Futuristen und Dadaisten gegen künstlerische Traditionen, eine Revolution der Kunst trat jedoch erst um 1920 ein. In ihren Manifesten und Einladungen zu Soireen ließen Vertreter wie Filippo Tommaso Marinetti, Tristan Tzara oder Richard Huelsenbeck die Buchstaben nur so umherfliegen. Während Futurismus und Dadaismus eine künstlerische Zerstörungslust an den Tag legten, fingen andere deutschsprachige Gestalter an, konstruktiver zu denken. Dabei spielte auch der in der Sowjetunion entwickelte Konstruktivismus eine große Rolle. Einer der Botschafter dieser Kunstrichtung, die die Gestaltung mit einfachen geometrischen Formen ins Zentrum rückte, war der russische Maler und Grafiker El Lissitzky. Lissitzky beeinflusste mit seiner abstrakten Formensprache viele Typografen. In Verbindung mit dem Konstruktivismus stand auch die niederländische De Stijl-Gruppe um Piet Mondrian und Theo van Doesburg, die ebenso eine sachlich-abstrakte, „elementare“ Gestaltung propagierte. In Deutschland wurde 1907 der Deutsche Werkbund gegründet, der als Keimzelle der modernen visuellen Gestaltung gilt. Unter den Mitgliedern waren der deutsche Architekt und Gestalter Walter Gropius sowie Peter Behrens. Den Gründern des Werkbunds ging es vor allem um eine sachliche Art der Formgebung, die sich aus Zweck, Material und Konstruktion ergeben sollte – kurz: form follows function.
Links: Futuristisches Plakat von Marinetti | Rechts: Dadaistische Einladung zu einer Soiree – nach Datum und Ort muss man hier suchen.
Oben links und Mitte: Der russische Maler und Grafiker El Lissitzky beeinflusste mit seinem konstruktivistischen Design viele deutsche Typografen. | Oben rechts und unten: Piet Mondrian war Mitglied der De Stijl-Gruppe, die ebenso die abstrakt-schlichte Gestaltung mit geometrischen Formen praktizierte.
Das Bauhaus
1919 gründete Walter Gropius das Staatliche Bauhaus in Weimar und ebnete damit den weiteren Weg in Richtung typografischer Abstraktion. Das Bauhaus gilt bis heute als einflussreichste Bildungsstätte im Bereich Architektur, Kunst und Design im 20. Jahrhundert. Sein Ursprungsgedanke war die Emanzipation der Kunst von der Industrialisierung und damit die Wiederbelebung des Kunsthandwerks – jedoch in einem modernen Sinn. Das Bauhaus war damit der Gegenentwurf zur Ästhetik des Historismus und später auch des Jugendstils, in denen Ornamente durch die industrielle Massenproduktion seriell kopiert wurden. Mit der Rückbesinnung auf das Handwerk wollte man auf moderne und experimentelle Weise eine neue Formensprache entwickeln, die dem industriellen Herstellungsprozess gerecht würde. 1923 holte Gropius den konstruktivistischen ungarischen Maler Lázló Moholy-Nagy ans Bauhaus, der dort die Typografie zu einem Schwerpunkt machte. Das Bauhaus folgte dem typografischen Trend zum Elementaren: Groteskschriften, ein asymmetrischer, aber funktionaler Seitenaufbau, der natürliche Schwerpunkte zulässt (Stichwort: typografische Rastersysteme), viel Schwarz-Weiß und gelegentlich Rot als Akzent. Die auch heute noch oft verwendete durchgängige Kleinschreibung fand ebenso am Bauhaus seinen Anfang. Die Bauhaus-Erklärung auf ihrem Briefbogen dazu: „warum zwei alfabete, wenn eins dasselbe erreicht? warum groß schreiben, wenn man nicht groß sprechen kann?“ Für die Bauhäusler wurde ihre Grotesk-Typografie einer jungen Industriegesellschaft gerecht, die zugleich Fortschritt, Internationalität, aber auch eine sozial orientierte Fraternisierung symbolisierte. 1925 wurde das Bauhaus nach Dessau verlegt, wo sich aus Moholy-Nagys Typografie-Werkstatt eine Druckerei- und Reklamewerkstatt entwickelte, die weiter zum Atelier für Grafikdesign ausgebaut wurde. An dieser Entwicklung waren besonders auch die Gestalter Joost Schmidt und Herbert Bayer beteiligt.
Die Typografie am Bauhaus favorisierte in jeglicher Hinsicht die Grotesk – oft auch in Kleinschreibung.
Die „Neue Typografie“
Obwohl das Bauhaus bis heute synonym für eine neue Art der Typografie steht, gehörte ihr eigentlicher Theoretiker nicht zur Kunstschule: Jan Tschichold. Mit einem Aufsatz in einem Sonderheft der Leipziger „Typographischen Mitteilungen“ beschrieb er die Thesen seiner „Elementaren Typografie“. Einige der Thesen aus diesem Aufsatz sind nachfolgend gelistet:
Die neue Typografie ist zweckbetont.
Zweck jeder Typografie ist Mitteilung, deren Mittel sie darstellt. Die Mitteilung muss in kürzester, einfachster, eindringlichster Form erscheinen.
Elementare Schriftform ist die Groteskschrift aller Variationen: mager, halbfett, fett, schmal bis breit.
Schriften, die bestimmten Stilarten angehören oder beschränkt nationalen Charakter tragen (Gotisch, Fraktur, Kirchenslavisch), sind nicht elementar gestaltet und beschränken zum Teil die internationale Verständigungsmöglichkeiten.
Auch die unbedruckten Teile des Papiers sind ebenso wie die gedruckten Formen Mittel der Gestaltung.
Elementare Gestaltung schließt die Anwendung jeden Ornaments aus. Die Anwendung von Linien und an sich elementaren Formen (Quadraten, Kreisen, Dreiecken) muss zwingend in der Gesamtkonstruktion begründet sein.
Links: Mit einem Aufsatz zur “Elementaren Typografie” erregte Jan Tschichold erstmals Aufsehen. | Rechts und unten: In seinem Handbuch “Neue Typograpie” liefert Tschichold auch praktische Anwendungsbeispiele.
Neben Jan Tschichold war Willi Baumeister einer der einflussreichsten neuen Typografen. Auch er sprach sich gegen eine symmetrische Ordnung aus (siehe oben linke Seite) und plädierte für einen Schriftsatz, der dem natürlichen Sehen und Lesen (siehe oben rechte Seite) nachkam und den Weißraum als Gestaltungselement miteinbezog. Jeglicher opulent gestalteter Werbung setzte er entgegen: „Telegrammstil ins Optische übertragen. Rapid muß ein Plakat, eine Anzeige mit dem Auge gefaßt und abgelesen werden können.“
Obwohl es an Regeln nicht mangelte, fehlte es den neuen Typografen lange an einer Schrift, die ihrem Streben nach Unpersönlichkeit und Zeitlosigkeit nachkam. Grotesk-Schriften für Akzidenzen konnten selbst gezeichnet werden, aber eine geeignete Schrift für den Mengensatz war noch nicht vorhanden. Obwohl Jan Tschichold aufgrund der Lesbarkeit für den Fließtext zunächst auch eine unaufdringliche, sachliche Antiqua empfahl, verwendete er selbst für sein Handbuch der „Neuen Typographie“ eine serifenlosen Schrift: die Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Akzidenz-Grotesk der Berthold AG. Trotzdem waren sich die modernen Gestalter einig, dass eine neue Schrift für ihre neue Typografie geschaffen werden musste. Großen Erfolg hatte in der Folge Paul Renner mit seiner Futura. Die Schrift basierte auf den geometrischen Formen Kreis, Dreieck und Quadrat und wurde damit zum Favoriten aller Modernisten.
Mit seiner Futura kam Paul Renner dem Wunsch der “Neuen Typografen” nach einer modernen geometrischen Grotesk nach.
Zug um Zug eroberte die Grotesk-Typografie ab 1920 Europa. Die Gestaltung wurde durch ein Aufeinanderprallen von modernen, avantgardistischen und traditionellen Ansätzen konstruktiv vorangetrieben – bis Faschismus und Nationalsozialismus an die Macht kamen.
Von der Entwicklung der Schrift bis zum 19. Jahrhundert
Möchte man die Historie der Typografie betrachten, stellt sich unweigerlich die Frage, wo anzufangen. Da Typografie nicht ohne Schrift existieren könnte, liegt es nahe im Zeitraffer ganz vorne zu beginnen.
Entwicklung der Schrift
Menschen begannen an unterschiedlichen Orten der Erde zu unterschiedlichen Zeitpunkten Schrift zu entwickeln. Während es bereits Funde chinesischer Zeichen aus dem 7. bis 6. Jahrtausend vor Christus gibt, werden die ersten allgemein anerkannten Vorläufer der Schrift auf circa 3.500 v. Chr. datiert. Diese entwickelten sich zur Keilschrift, die wiederum über Jahrtausende von der modernen Silben- und Buchstabenschrift abgelöst wurden. Die arabische Schrift, die hebräische Schrift und auch unser lateinisches Alphabet haben ihren Ursprung in der phönizischen Schrift, die vor circa 3.100 Jahren entstand. Die Griechen als Handelspartner der Phönizier übernahmen deren Schrift und entwickelten sie ab circa 900 v. Chr. weiter. Die von den Griechen perfektionierte phönizische Alphabetschrift gelangte zu den Etruskern im nördlichen Mittelitalien. Ab circa 500 v. Chr. eroberten die Römer den Mittelmeerraum und entwickelten die lateinische Schrift. Durch die Ausdehnung des römischen Imperiums hielt das lateinische Alphabet in ganz Europa Einzug und verdrängte auch die in Nordeuropa bis dahin verwendeten Runen. Nach Zusammenbruch des weströmischen Reiches wurde das Wissen um die Schrift nur in den Klöstern bewahrt, womit das Schreiben den Geistlichen, teils auch den Adeligen, vorbehalten war.
Links: Beispiel einer neuassyrischen Keilschrift, gefunden im heutigen Irak. | Rechts: Beispiel römischer Schriftkunst – eine gemeißelte Capitalis Monumentalis an der Trojansäule in Rom
Gutenbergs Buchdruck: Die Typografie beginnt
Als Geburtsstunde der europäischen Typografie gilt die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern ab 1450 durch den Mainzer Prototypografen Johannes Gutenberg. Rund achtzig Jahre zuvor wurden in Korea bereits Anthologien der Zen-Lehre buddhistischer Priester in Han-Schriftzeichen gesetzt. Dies geschah mit beweglichen Metalllettern. Aufgrund der komplexen Hanja-Schrift mit ihren Tausenden Schriftzeichen konnte sich dort der Buchdruck jedoch noch nicht durchsetzen – im Gegensatz zu Gutenbergs Typografie. Gutenberg verfolgte eine ähnliche Satz- und Drucktechnik wie die Koreaner, profitierte aber von der relativen Einfachheit des lateinischen Alphabets mit nur wenigen Majuskeln, Minuskeln, Ligaturen und Sonderzeichen. Der Buchdruck setzte eine mediale Revolution in Europa in Gang, der den zuvor elitären Schriftgebrauch grundlegend revolutionierte. Schrift wurde demokratisiert. Ideen und Wissen konnten maschinell reproduziert und verteilt werden, was einen gesellschaftlichen Strukturwandel nach sich zog. Das Resultat: Humanismus, Aufklärung und die Entdogmatisierung der Wissenschaft waren untrennbar mit Typografie verbunden. Bereits fünfzig Jahre nach Gutenbergs Erfindung gab es in Europa über Tausend Offizinen (Buchdruckereien), in denen bereits 30.000 Buchtitel erschienen waren.
Rund achtzig Jahre bevor Johannes Gutenberg den Buchdruck erfand (rechts: Faksimile der Gutenberg Bibel), wurde die Zen-Lehre buddhistischer Priester in Korea gedruckt (links). Die koreanischen beweglichen Metalllettern konnten sich aufgrund der komplexen Han-Schriften jedoch noch nicht durchsetzen – im Gegensatz zu Gutenbergs Erfindung, die den Grundstein der Typografie legte.
Von Deutschland nach Italien
Die Buchdruckerkunst wird auch „Schwarze Kunst“ oder „Deutsche Kunst“ genannt, da der Buchdruck von Deutschland aus Europa eroberte. Viele Prototypografen emigrierten im 15. Jahrhundert jedoch nach Italien und machten mit ihrem Wissen ab 1470 vor allem Venedig zum wichtigsten Zentrum der Typografie. Venezianische Stadtchroniken verzeichnen zwischen 1470 und 1480 an die fünfzig Typografen in der Stadt – beinahe alle mit deutscher Herkunft. Die folgenden Generationen deutsch-italienischer Typografen bewahrten Venedigs Ruf als Typografie-Hochburg bis ins 18. Jahrhundert. Einer ihrer bedeutsamsten war der venezianische Buchdrucker und Verleger Aldo Manuzio. Er war es, der bei Francesco Griffo die berühmte Bembo-Schrift im Auftrag gab. Bis ins 20. Jahrhundert hieß die Schrift eigentlich De Aetna-Type, da sie für den Druck der Abhandlung De Aetna des Humanisten und späteren Kardinals Pietro Bembo geschnitten wurde, die in der Druckerei von Aldo Manuzio gedruckt wurde. Die Bembo-Type bildete die Grundlage für die nachfolgende, bekanntere Garamond-Schrift. 1929 wurde die Bembo neu gezeichnet und nach Pietro Bembo benannt – und zählte bis Mitte des 20. Jahrhunderts zu den erfolgreichsten Werksatzschriften in Europa. (Anmerkung: „Werksatz“ bezeichnet den Satz von Werken mit umfangreicherem Fließtext wie Bücher und Periodika, aber auch Zeitungen und Zeitschriften.) Doch nicht nur in Venedig ließen sich deutsche Typografen nieder, sondern auch weiter südlich. So war es Rom, wo ab 1467 die erste reine Form der Antiqua-Schrift gedruckt wurde.
Die Bembo-Type wurden von Francesco Griffo im Auftrag von Aldo Manuzio geschnitten und erstmals 1496 gedruckt. Die Prototype gilt als typometrische Grundlage für die nachfolgende und berühmtere Garamond-Schrift. Das Beispiel zeigt eine Bembo von 1990.Beispiel einer reinen Antiqua-Schrift, wie sie im 15. Jahrhundert in Rom gedruckt wurde.
Antiqua versus Fraktur
Während sich im Süden Europas die Antiqua-Typografie über die Jahrhunderte ausbreitete, wurde in Deutschland seit den Reformationsschriften Martin Luthers im frühen 16. Jahrhundert die gebrochene Schrift kultiviert. Worin nun der Unterschied zwischen Antiqua-Schriften und gebrochenen Schriften liegt, soll nachfolgend geklärt werden.
Antiqua-Schriften bezeichnen Schriften für das lateinische Alphabet, die auf einer bestimmten Buchschrift des italienischen Renaissance-Humanismus beruhen. Antiqua-Schriften haben gerundete Bögen – das unterscheidet sie von gebrochenen Schriften. Innerhalb der Schriftgattung der Antiqua unterscheidet man zunächst Schriften mit Endstrichen (Serifenschriften, Serifen-Antiqua) und endstrichlose Schriften (serifenlose Antiqua). Serifenlose Antiqua-Schriften werden im Englischen als Sans-serif bezeichnet, im Deutschen oft auch als Grotesk. Innerhalb der Serifen-Antiqua gibt es weitere Klassifizierungen, die jedoch in einem weiteren Beitrag beleuchtet werden sollen. Nach dem Schnitt der Bembo-Type war es vor allem der französische Typograf Claude Garamond, der bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts die Weiterentwicklung der Antiqua-Schriften vorantrieb. Seinem Schaffen ist es zu verdanken, dass sich neben Venedig ab der Mitte des 18. Jahrhunderts auch Paris und London zu impulsgebenden Hauptstädten der Typografie entwickelten. In Frankreich war es u.a. Pierre Simon Fournier, in London waren es besonders John Baskerville und William Caslon, die Garamonds typografischer Tradition folgten.
Neben den Antiqua-Schriften gibt es gebrochene Schriften, Schreibschriften und fremde Schriften. Schreibschriften ahmen die Handschrift nach; die Buchstaben sind hier verbunden. Fremde Schriften sind jene, die nicht das lateinische Alphabet verwenden – also etwa Chinesisch, Kyrillisch, Arabisch, Griechisch oder Hebräisch. In Gegenüberstellung zur Antiqua sind vor allem die gebrochenen Schriften von Bedeutung. Die Fraktur (vom lat. fractura für „Bruch“) ist eigentlich eine Schriftart aus der Gruppe der gebrochenen Schriften, die insgesamt die gotische Schrift (Gotisch und Rundgotisch bzw. Rotunda), die Schwabacher und die Fraktur mit all ihren Varianten umfasst. Nach Forssmann und de Jong ist es aber durchaus üblich für alle drei Arten der gebrochenen Schrift die Bezeichnung „Fraktur“ zu verwenden. Von „gebrochenen“ Schriften ist deshalb die Rede, da die Rundungen der Buchstaben nicht rund, sondern gebrochen sind. Die Fraktur war vom frühen 16. Jahrhundert bis Anfang des 20. Jahrhunderts die meistbenutzte Druckschrift im deutschsprachigen sowie nordeuropäischen Raum und stand in Konkurrenz zur Antiqua mit ihren runden Bögen.
Links: Vergleich von Antiqua-Schriften mit und ohne Serifen. | Rechts: Beispiel gebrochener Schriften
Der Antiqua-Fraktur-Streit in Deutschland
Aus dieser Konkurrenz heraus entstand in Deutschland der Antiqua-Fraktur-Streit über den Stellenwert von gebrochenen Schriften für die geschriebene deutsche Sprache. Im Fokus des Streits stand vor allem auch die klassische deutsche Nationalliteratur. In welcher Schrift diese Literatur erscheinen sollte, war von wesentlicher Bedeutung – dadurch gewann auch die typografische Gestaltungsarbeit zunehmend an Ansehen. Im weitesten Sinne dauerte der Antiqua-Fraktur-Streit zwei Jahrhunderte bis sich die Antiqua schlussendlich durchsetzte: In der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde deutsche Sprache ausschließlich in gebrochener Schrift geschrieben, zur Hälfte des 20. Jahrhunderts war sie fast vollständig verschwunden. Während die Antiqua die Fraktur als Buch- und Druckschrift Zug um Zug ablöste, wurde bei Schreibschriften und Schullehrplänen länger diskutiert, welche Schrift nun die geeignetere wäre. 1941 kam es jedoch zum Normalschrifterlass, was die Umstellung der Schulbücher auf Antiqua-Schriften rasch beschleunigte.
Zwei Jahrhunderte dauerte der Streit in Deutschland, ob nun die runde Antiqua-Schrift oder gebrochene Schriften die geeigneteren für das Schreiben der deutschen Sprache seien.
Um 1800 definierte der Leipziger Typograf und Verleger Georg Joachim Göschen die Typografie als „ästhetisches Ausdruckssystem“ und orientierte sich in seinem Schaffen an der klassizistischen Schrift- und Buchgestaltung aus Italien und Frankreich: Giambattista Bodoni und Firmin Didot galten ihm als Vorbilder in seinem Bemühen um die ideale Verbindung von typografischer Form und literarischem Inhalt im Geiste der deutschen Klassik. Er produzierte Prunk-Editionen deutscher Klassiker in Antiqua-Schrift, die schon zu seiner Zeit zu begehrten Sammlerstücken und typografischen Luxusgütern wurden. Da das breitere deutsche Publikum jedoch an das Lesen gebrochener Schriften gewöhnt war, druckte Göschen seine Editionen auch parallel in Fraktur.
… war einer der italienischen Typografen, an denen man sich in Deutschland im Zuge der Einführung von Antiqua-Schriften orientierte.
Industrialisierung der Typografie
Mit Fortschritt der Technik und wirtschaftlichem Aufschwung vollzog sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die industrielle Revolution und damit auch ein Wandel in den Arbeits- und Produktionsbedingungen. Auch die Typografie war hier nicht ausgenommen – sie wurde von der Kunst der Gelehrten immer mehr zum Handwerk. Bis in die späten 1980er-Jahre verstand man deshalb unter Typografie vorwiegend den handwerklichen Schriftsatz. Im frühen 19. Jahrhundert wurden in den Offizinen auch Gelegenheitsaufträge gedruckt – die sogenannte „Akzidenztypografie“. Diese gewann mit steigender Prosperität der Wirtschaftstreibenden immer mehr an Bedeutung und bezeichnete ab Mitte des Jahrhunderts Geschäfts- und Privatdrucksachen wie Briefpapier, Visitenkarten, Plakate oder Prospekte („Akzidenzen“). Damit begann die Typografie in die Wirtschaft vorzudringen, was die Industrialisierung des Drucks vorantrieb. Bald sollten Druckwerke massenweise maschinell hergestellt werden und damit die Mechanisierung in die Setzer-Werkstätten Einzug halten.