Leere im Design: Japanischer Minimalismus

Leere, Ästhetik, Design.

Ästhetische Erfahrungen aus japanischer Sicht unterscheiden sich deutlich von westlichen Kulturen, da sie sowohl die Zurückhaltung als auch das Vergängliche als bewundernswerte Qualitäten sehen. Understatement ist eine Eigenschaft vieler Kunst- und Designobjekte in Japan, sowohl im historischen Kontext als auch in der modernen Ära.

Der Ursprung dieses minimalistischen Ansatzes, wurde unter anderem durch japanische Philosophen mitgestaltet, die sich in der Vergangenheit intensiv mit einer Vielzahl von Philosophien außerhalb ihres Heimatlandes auseinandergesetzt haben – vor allem mit der chinesischen, indischen, koreanischen und westlichen. So haben sie von einem reichen Fundus an Ideen und Theorien profitiert, aus dem sie bei der Entwicklung ihrer eigenen, unverwechselbaren Ästhetik, schöpfen konnten.

In den letzten Jahren haben besonders japanische Verfechter des Lifestyle-Minimalismus, wie Marie
Kondo und Fumio Sasaki, Bekanntheit erlangt. Ihre Theorien gehen davon aus, dass Objekt im eigenen Haushalt ein hohes Maß an Zuneigung benötigen. Wird in einem Objekt kein Wert gesehen, sollte dieses ausrangiert werden.

Today we seem to be experiencing a rationalisation of our senses: the art of refinement is half forgotten – details, absorption and slow engagement are neglected.

Olafur Eliasson

Der japanische Minimalismus betrachtet die Ästhetik von Design. Die ästhetische Qualität eines Produkts ist ein wesentlicher Faktor für Nützlichkeit, denn Produkte, die wir täglich benutzen, beeinflussen unsere Person und unser Wohlbefinden. Aber nur gut ausgeführte Objekte können schön sein. Gutes Design ist unaufdringlich: Produkte, die einen Zweck erfüllen, seien wie Werkzeuge. Ihr Design sollte, sowohl neutral als auch zurückhaltend sein, um dem Benutzer den Raum für Selbstdarstellung zu gewähren. Betrachten wir beispielsweise die japanische Flagge: Im Gegensatz zu anderen Zeichen, deren Bedeutungen genau festgelegt sind, können wir bei Symbolen wie der roten Scheibe in der japanischen Flagge unserer Phantasie freien Lauf lassen.

Die Lehre des leeren Raums begründet die Theorie, dass ein leerer Zustand die Möglichkeit der Empfänglichkeit mit sich bringt. Aus Nichts könne daher alles andere entstehen. Der Mechanismus der Kommunikation wird aktiviert, wenn wir ein leeres Gefäß nicht als einen negativen Zustand betrachten, sondern im Hinblick auf seine Fähigkeit, mit etwas gefüllt zu werden. Die alte japanische Religion des Shinto verehrt die “acht Millionen Götter”, aber wenn sie aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden, kann diese Leere als eine Technik der Kommunikation, als eine Vorstellungskraft, die Götter von überall her einlädt, verstanden werden. Ein Shinto-Schrein, jinja, ist ein zentraler Raum, in dem die religiösen Aktivitäten der Menschen stattfinden. Er wird auch shiro oder yashiro genannt, und sein Grundprinzip ist es, “die Leere zu umarmen”. In seiner ursprünglichen Form wurden vier Säulen auf den Boden gestellt und ihre Spitzen mit heiligen Seilen zusammengebunden, so dass ein “leerer Raum” entstand.

Gerade weil dieser Raum leer sein soll, besteht immer die Möglichkeit, dass etwas eintrifft. In einigen Fällen steht Weiß für Leere. Weiß als Nicht-Farbe verwandelt sich in ein Symbol des Nichtseins. Leere bedeutet jedoch nicht “Nichts”, sondern weist in vielen Fällen auf einen Zustand hin, der in der Zukunft wahrscheinlich mit Inhalt gefüllt werden wird.

Quellen:

Hara, Ken’ya: White. Lars Müller Publishers, 2010.

Heisig, James / Kasulis, Thomas / Maraldo, John C. In: Japanese philosophy. A sourcebook. University of Hawaii Press, 2011.

Haimes, Paul: On Japanese minimalism. 2020.

Typografie: Ein Experiment?

Von ersten Schritten im Type Design 

Im ersten Semester habe ich mich eingehend mit Grundlagen der Typografie beschäftigt. Im zweiten Semester geht es nun ans Experimentieren. So unzählig die Schriften am Markt sind, so vielfältig sind natürlich auch die Möglichkeiten, welche Experimente man mit Typografie anstellen könnte. Da mich nicht nur das Setzen von Schrift interessiert, sondern auch die Gestaltung von Schrift per se, habe ich beschlossen, mich weiter ins Type Design vorzuwagen. 

Erste Schritte in der Schriftgestaltung: Eine Variable Font, die zwischen Grotesk und Script interpoliert.

Basiswissen Schriftgestaltung

Was mir bei meinem Plan in die Hände spielt, ist ein Lehrveranstaltung zu Type Design am Ende des letzten Semesters. Wir machten unsere ersten Schritte in Glyphs, einem Font Editor, und beschäftigten uns näher mit der Gestaltung variabler Schriften. Dabei stand vielmehr der Versuch im Fokus als das Ergebnis. Soll heißen: Es ging darum, die Software kennenzulernen, zu verstehen, wie zwischen zwei Schriftmastern interpoliert wird und welche ernsthaften, aber auch witzigen, absurden, kecken oder überraschenden Ergebnisse erzielt werden können. Dazu sollten wir uns überlegen, welche beiden Master wird heranziehen möchten. Mit „Master“ sind in Glyphs die beiden Pole oder Extreme gemeint, zwischen denen sich die Buchstaben formal bewegen lassen. Bei einer Variable Font müssen beide Master gestaltet werden und alle möglichen Formen dazwischen entstehen durch die Verwandlung von einer Buchstabenform in die andere (Interpolierung). 

Erste Erfahrungen mit Gylphs und einer Variable Font

Ich mag zu einer aussterbenden Rasse gehören, wenn ich sage: Ich schreibe sehr gerne mit der Hand. Das liegt wohl daran, dass Handschrift immer persönlich wirkt – sei sie nun „ästhetisch“ oder nicht. Tatsächlich ist es mehr ein Gekrakel oder Gekritzle, das ich im Zusammenspiel mit sehr nüchternen Grotesken oft charmant finde. Kalligraphie – also die Kunst des schönen Schreibens – liegt mehr eher fern. So beschloss ich Buchstaben einer Variable Font zu gestalten, die sich zwischen diesen beiden Extremen bewegten: einer Grotesk und einer gekritzelten Handschrift. Ich wollte ausprobieren, wie Buchstaben aussehen würde, die sich irgendwo in der weiten Welt zwischen strenger Sans Serif und spielerischer Script aufhielten und ob nicht auch innerhalb dieses Spielraums ansprechende Formen entstehen konnten.   

Prozedere der Gestaltung

Zuerst schrieb ich einige Male das Alphabet in Großbuchstaben auf ein Blatt Papier, digitalisierte jene Varianten, die mir gefielen und schliff sie im Illustrator fein. (Abb. 1) Aus Zeit- und Erfahrungsgründen wählte ich eine Grotesk, die als Grundlage für meinen Master dienen sollte – die Suisse Int’l. Bei der Vorbereitung im Illustrator war wichtig, dass die Buchstaben beider Master immer dieselbe Anzahl an Ankerpunkten aufwiesen, damit bei der Interpolierung keine Fehler auftreten konnten. Bei der Interpolierung einer Variable Font bewegen sich nämlich die einzelnen Punkte von A nach B. Existiert nun im Buchstaben des Master A ein Punkt, den es im Master B nicht mehr gibt, weiß das System nicht, wohin der Punkt transferiert werden soll.  

Abb. 1 – Vorlage in Illustrator

In Glyphs legte ich nun zwei Master an – einen für den Grotesk-Pol und einen für den Handschrift-Pol. Danach kopierte ich die einzelnen handschriftlichen Buchstaben aus Illustrator in Glyphs und fügte sie jeweils in beide Master ein. Bis auf einzelne Feinschliffe konnte ich die Handschrift-Buchstaben so belassen, wie sie in Illustrator entstanden waren. Ich musste sie nur so auf die Grundlinie setzen, dass eine typische handschriftliche (und damit gewollte) Unebenheit im Satz entstand, und das Spacing anpassen (Abb. 2–4). Die größte Arbeit ging also im Grotesk-Master vonstatten: Ich hatte zuerst grob auf einem Blatt Papier skizziert, wo die einzelnen Ankerpunkte in den jeweiligen Buchstabenvarianten saßen – also wo sie in der Handschrift-Version positioniert waren und wo in der Grotesk (Abb. 5-6). 

Mit dieser Skizze bearbeitete ich jeden Buchstaben im Grotesk-Master in Glyphs und setze die Ankerpunkte der zunächst noch handschriftlichen Zeichen an jene Stelle, sodass der Grotesk-Buchstabe entstand (Abb. 7–8). Als Anhaltspunkt kopierte ich mir die jeweiligen Buchstaben der Suisse Int’l in den Hintergrund, damit die Form auch wirklich passte (Abb. 9). Zug um Zug entstand so das Großbuchstaben-Alphabet meiner ersten Variable Font. 

Abb. 9 – Die Buchstaben der Suisse Int’l galten als Vorlage für den Grotesk-Master und lieferten im Hintergrund die Anhaltspunkte, wo die jeweiligen Ankerpunkte platziert werden mussten.

Das Minimum einer Schrift?

Vom Ehrgeiz gepackt, wollte ich nicht nach ein paar Buchstaben aufhören ­– auch wenn unsere Lehrveranstaltung bereits zu Ende war. So gestaltete ich weiter bis ich alle 26 Buchstaben des Alphabets hatte (Abb. 10–11). Um die Schrift auch wirklich verwenden zu können, mussten jedoch noch einige Interpunktionszeichen her, die ich nach dem gleichen Schema zuerst per Hand schrieb, digitalisierte, in Illustrator bearbeitete und schlussendlich in Glyphs in zwei Mastervarianten verwandelte (Abb. 12).

Abb. 12 – Um die Schrift wirklich verwenden zu können, bedarf es zumindest einem Minimum an Interpunktionszeichen.

Fazit und Ausblick

Da ich selbst hauptsächlich auf Deutsch und Englisch schreibe, möchte ich nun noch die Umlaute des Deutschen als Großbuchstaben zeichnen sowie einige Glyphen feinschleifen und damit dieses erste Schrift-Experiment abschließen. Ich freue mich, die (vorübergehend?) finale Schrift im nächsten Blogbeitrag präsentieren zu können. Und wer weiß? Vielleicht küsst mich die Muse noch für weitere Glyphen und die fehlenden Kleinbuchstaben. Die Lehrveranstaltung im letzten Semester sowie das weitere Ausprobieren im Type Design hat jedenfalls bereits großen Spaß gemacht. Ich war und bin fasziniert, wie toll sich das Erschaffen einer eigenen Schrift anfühlt. Für mich ist es eine neue Form und weitere Dimension des „Formgebens“. So wähle ich nicht nur eine passende Schrift, die bereits existiert und gestalte damit einen Text typografisch, sondern erschaffe Buchstaben-Formen, die in dieser Art und Weise noch nicht bestanden, mit ihrer Entwicklung jedoch reproduzierbar werden. 

Nach Abschluss dieser ersten Schritte, möchte ich mich in diesem Semester einem neuen Experiment der Schriftgestaltung widmen – eventuell wieder in Form einer Variable Font, jedoch mit zwei experimentelleren Mastern. Um eine finale Entscheidung zu treffen, wie das Experiment inhaltlich aussehen soll, möchte ich den Start einer weiteren Type Design-Lehrveranstaltung abwarten, die ich zusätzlich für Design & Research 2 besuchen werden. Die Lehrveranstaltung widmet sich wiederum den Grundlagen der Schriftgestaltung und liefert mir sicherlich weiteren Input, welche Versuche ungewöhnlich, überraschend und/oder spannend wären. In diesem Sinne: Experiment to be continued … 

Schrift als Bedeutungsträger

Typografie ist mehr als das simple Darstellen von Texten, weshalb Schriften nicht alleine aus einem ästhetischen Bestreben heraus entstehen sollten. Jede Schrift sollte einen Charakter haben, der nicht versucht nachzuahmen was bereits existiert, sondern einen Mehrwert im bereits existierenden Schriftenpool darstellen. Schriftwahl und typografischer Satz unterstreichen die Botschaft eines Textes oder – falls gewollt – stellen diese auf die Probe. Ein Type Designer, dessen Schriften stark politisch aufgeladen sind, ist Tré Seals. Durch seine Arbeit wurde mir als Grafikerin klar, wie uniform viele der heutigen Designs sind und wie viel Typografie, die bewusst historisch, politisch oder gesellschaftskritisch aufgeladen ist, bewirken kann. Schrift ist ein Bedeutungsträger, der Leser:innen auf Unbedachtes oder Unbeachtetes aufmerksam machen kann. Es gibt wohl zu viele Schriften, die nur gefallen wollen oder sich zum Verwechseln ähnlich sehen – und eben wesentlich zu wenige, die eine Form-inhärente Botschaft tragen und sich dadurch von der Masse abheben. 

Inwiefern Schriften selbst zum Bedeutungsträger werden können, möchte ich anhand der Arbeiten des zuvor erwähnten Type Designers Tré Seals in diesem Blogbeitrag beleuchten. 

Seals Weg zu politischer Schriftgestaltung

Tré Seals ist Afro-Amerikaner, lebt und arbeitet in den Vereinigten Staaten. Er absolvierte sein Kommunikationdesignstudium 2015 und gründete ein Branding-Studio. Im Sommer 2016 war er auf der Suche nach Inspiration für ein Projekt. Dabei fiel ihm auf, dass viele Arbeiten sehr ähnlich aussahen. Kurz darauf fiel ihm eine Tabelle des U.S. Bureau of Labor Statistics zur Demografie in der Designbranche in die Hände. Diese besagte, dass nur 3 bis 3,5 Prozent der Designer:innen in Amerika schwarz waren und rund 85 Prozent weiß. Darin lag für Tré Seals der Grund in der Uniformität vieler Webseiten. Auf seiner eigenen Webseite schreibt Seals dazu: »Until recently, the majority of all designers in America were men. So if you’re a woman or if you’re of African, Asian, or Latin dissent, and you see an advertisement that you feel does not accurately represent your race, ethnicity, and/or gender, this is why.«

Seals argumentiert weiter, dass es in einer Branche, die von einer einzigen Sichtweise – nämlich einer männlich-weißen – geprägt ist, auch nur eine Art des Denkens, Lehrens und Schaffens geben kann. Ein Mangel an Vielfalt in Rasse, ethnischer Zugehörigkeit und Geschlecht führt zu einem Mangel an Vielfalt in Systemen, in Ideen und Kreativität. 

So beschloss Seals, einen Weg zu finden, um die Vielfalt und Empathie in der Designbranche zu erhöhen. Er war sich bewusst, dass er die Demografie oder das Bildungssystem nicht ändern konnte. So fand er einen Weg, ein nicht-stereotypisiertes Stück Minderheitskultur selbst in das Design einzubringen. Er setzte dabei bei der Typografie an – ihm zufolge die Basis jedes guten Designs – und gründete seine Type Foundry Vocal Type. Mit den entstehenden Schriften möchte Seals ein Zeichen für mehr Vielfalt im Design setzen und Bewusstsein für Minderheiten in den Vereinigten Staaten schaffen, die durch die vorherrschende Designszene unterrepräsentiert sind. 

Die Entwicklung der Schrift Du Bois

Als Tré Seals das erste Mal Rassismus erlebte, begann er sich mit der Geschichte der Afro-Amerikaner:innen auseinanderzusetzen. Im Zuge seiner Recherche stieß er auf den afro-amerikanischen Bürgerrechtler und ersten schwarzen Harvard-Doktoranden William Edward Burghardt Du Bois, der von 1886 bis 1963 lebte. Für die Weltausstellung 1900 in Paris hatte Du Bois Infografiken gezeichnet, die den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt der Afro-Amerikaner:innen seit dem Ende der Sklaverei 1865 visualisierten. Zugleich zeigten die Grafiken auch den systematischen Rassismus, den Schwarze seitdem erleb(t)en. Tré Seals war sehr beeindruckt von diesen Infografiken, auf deren Basis er eine Schrift entwickeln wollte. Diese Schrift sollte das Bewusstsein für die Geschichte der Afro-Amerikaner:innen in sich tragen.

Er analysierte zunächst die handgeschriebenen Buchstaben in den Grafiken von Du Bois, die eine starke Kohärenz aufwiesen. Er fertigte Skizzen mit Bleistift und Kugelschreiber an und importierte sie in den Fonteditor Glyphs. Dort zeichnete er die Buchstaben nach. Er fertigte unzählige Varianten der Buchstaben an, um schlussendlich jene Formen zu finden, die nahe am Original waren und zugleich als moderne Schrift funktionierten. Neben einigen Lettern, die sehr viel Zeit in Anspruch nahmen wie das Ampersand oder das Prozent-Zeichen, musste Seals auch viele Buchstaben völlig selbst zeichnen, da sie in den Grafiken der Weltausstellung nicht vorkamen – u.a. alle Kleinbuchstaben sowie mathematische Zeichen. Aus den Buchstaben, die der Bürgerrechtler Du Bois vor circa 120 Jahren von Hand schrieb, ließ der 27-jährige Schriftgestalter schlussendlich eine streng geometrische Sans-Serif entstehen. Zusätzlich fertigte er elf Style-Sets mit Formenvarianten an, durch die einzelne Lettern sehr unterschiedlich aussehen können: mit Art Déco-Touch oder als Slab Serif. Die Schrift Du Bois mag nicht die All-time-Variante werden, auf die Grafiker:innen im Zweifelsfall gerne zurückgreifen, doch eben darum ging es Seals eigentlich auch – endlich eine Schrift, die nicht wie alle anderen, sicheren Varianten aussah. Denn eines ist Du Bois gewiss: eine Schrift, die sich durch ihre starke Symbolik von der Masse abhebt und beweist, wie viel Verantwortung und Möglichkeit im Schriftdesign stecken.

Von Bürgerrechtsbewegung bis Gay Pride: Die Vielfalt von Vocal Type

Elf Schriften hat Tré Seals Vocal Type derzeit im Programm. Alle Schriften weisen eine Verbindung zu Minderheiten und ihren Geschichten auf: von der Bürgerrechtsbewegung in den USA über die weltweite Frauenwahlrechtsbewegung bis hin zu den Stonewall-Unruhen 1969, die als Beginn der Gay Pride Bewegung gelten oder einer eigenen Schrift für ein Buch des schwarzen Filmemachers und Schauspielers Spike Lee.

Wichtig ist Tré Seals, dass seine Schriften jedoch nicht nur für politische Botschaften eingesetzt werden – vielmehr sollen sie in die Alltagsanwendung von Typografie Eingang finden, um so für mehr Vielfalt und Bewusstsein zu sorgen. So soll Du Bois, zum Beispiel, die ja von einem schwarzen Bürgerrechtler inspiriert ist, in Projekten mit völlig anderem Hintergrund wie dem Corporate Design eines Restaurants oder Modegeschäfts angewendet werden. So bestünde die Möglichkeit, so Seals, dass die Geschichte der Schrift von Leuten wahrgenommen wird, die sich ansonsten niemals damit beschäftigt hätten. Abschließen möchte ich diesen Beitrag mit Tré Seals Appell an alle Kreativen im Manifesto von Vocal Type

This is a type foundry for creatives of color who feel that they don’t have a say in their industry. This is for creative women who feel that they don’t have a say in their industry. This is for the creative that is tired of being “inspired” by the same designs over and over again. Vocal is for the creative that cares about telling the stories of the people we serve and not the false history of the industry we work in. Vocal is for the creative that wants to build a community—not a following.

Tré Seals, Type Designer und Gründer von Vocal Type

Literatur

Dohmann, Antje. „Type that matters“, in Günder, Gabriele (Hrsg.), Page 03.21.

Seals, Tré. Manifesto [online]. Vocal Type. [Letzer Zugriff am 2022-03-08]. Verfügbar über: https://www.vocaltype.co/manifesto

Seals, Tré. Story of [online]. Vocal Type. [Letzer Zugriff am 2022-03-08]. Verfügbar über: https://www.vocaltype.co/story-of

Seals, Tré. Typeface [online]. Vocal Type. [Letzer Zugriff am 2022-03-08]. Verfügbar über: https://www.vocaltype.co/typefaces

Fotocredits

Abbildungen der Schriften und Porträtfoto: (c) Tré Seals

Protestmarsch zu Ehren Martin Luther King: (c) Robert Abbott Sengstacke/Getty Images

Protestmarsch für das Frauenwahlrecht: (c) Photo by Bettmann/Getty Images

Info-Grafiken von W.E.B. Du Bois: (c) Library of Congress / der Website von Tré Seals entnommen

Lesetypografie

Systematik der Lesearten nach Hans Peter Willberg und Friedrich Forssman

Arten der Typografie 

Typografie ist Gestaltung von und mit Schrift. Diese Gestaltung hat immer einen Zweck – jedoch kann dieser ganz unterschiedlich ausfallen. „Die Typografie“ gibt es deshalb nicht. Vielmehr geht es um die Frage: Was soll mit der Typografie erreicht werden? Je nach Anforderung unterscheiden Willberg und Forssman (2010:14) zwischen:

  • Orientierungstypografie: Sie muss den richtigen Weg weisen – zum Beispiel am Flughafen oder in einem Fahrplan.
  • Werbetypografie: Sie soll Aufmerksamkeit erregen – dabei ist alles erlaubt.
  • Designtypografie: Sie will erneuern und Risiken eingehen, um neue Wege zu gehen.
  • Zeitungstypografie: Sie soll klar und deutlich sein und schnell zur Sache kommen.
  • Magazintypografie: Sie soll zum Schmökern einladen.
  • Dekorationstypografie: Sie soll schön sein. Lesbarkeit ist zweitrangig. 

Darüber hinaus erwähnen die Autoren die Typografie von Formularen, Verträgen und dergleichen, die ich an dieser Stelle als „Bürokratie-Typografie“ bezeichnen möchte. 

Typografische Entscheidungen fallen also je nach Anforderung an die Typografie. Die zuvor genannten Arten der Typografie unterscheiden sich in der Art, wie wir den Text lesen. Zusammengefasst fallen sie also alle unter den Begriff „Lesetypografie“. Eine besonders herausfordernde Art der Lesetypografie, die oben noch keine konkrete Erwähnung fand, ist die Buchtypografie. Sie ist besonders komplex, weil auch innerhalb des Mediums „Buch“ eine enorme Vielfalt besteht. Man denke nur an den Unterschied zwischen einem Lexikon und einem Gedichtband oder einem Roman und einem Schulbuch. Sie alle sind Bücher – jedoch werden sie auf völlig unterschiedliche Weise gelesen. Es gibt also auch nicht „die Buchtypografie“. 

Fotografie, Illustration und Typografie bilden die drei grundlegenden visuellen Sprachen von Gestalter:innen. Dabei verfügt die Typografie über die meisten Regeln. Die gestalterische Praxis lehrt einen jedoch schnell, dass nicht alle typografischen Regeln, die sich seit Jahrhunderten bewähren, immer gültig sind. Manchmal sind sie anwendbar, manchmal nicht und manchmal nur zum Teil. Da Bücher für das Lesen gemacht werden, schlagen Willberg und Forssman vor, bei typografischen Entscheidungen immer von der Art des Lesens auszugehen. 

Die Art, wie gelesen wird, ist der Maßstab für die Buchgestaltung – nicht Typografen-Traditionen, Ideologien oder Meinungen.

H.P. Willberg und Friedrich Forssman

Bei welcher Leseart gelten welche Regeln? – das ist nach Willberg und Forssman die richtige Frage. Und nicht: Bei welchem Buch gelten welche Regeln? Die beiden Autoren gehen in ihrem Grundlagenwerk der Lesetypografie von der Buchgestaltung aus. Ich bin der Meinung, dass die Frage, wie der Text schlussendlich gelesen werden wird, bei allen anderen Medien genauso gestellt werden muss – und auch die unterschiedlichen Lesearten, die ich nun nachfolgend beleuchten möchte, können auf alle typografischen Werke, die längere Texte beinhalten zutreffen. 

Die Systematik der Buchtypografie

Die Systematisierung von Lesearten ist ein Resultat der Praxis. Bei jeder Gestaltung müssen Typografen Entscheidungen treffen, die plausibel argumentiert sein wollen. Doch auf welcher Basis? Laut Willberg und Forssman bietet die Art des Lesens die richtige Grundlage. Sie bezeichnen Lesetypografie als „Buchgestaltung vom Leser und vom Lesen aus gesehen“ (2010:14). Aus diesem Blickwinkel heraus differenzieren sie zwischen acht unterschiedlichen Lesearten und daraus resultierende Typografien: 

  • Typografie für lineares Lesen
  • Typografie für informierendes Lesen
  • Typografie für differenzierendes Lesen
  • Typografie für konsultierendes Lesen
  • Typografie für selektierendes Lesen
  • Typografie nach Sinnschritten
  • Aktivierende Typografie
  • Inszenierende Typografie  

Nachfolgend möchte ich diese Lesearten und die mit ihnen verbundenen typografischen Regeln näher beleuchten. 

1 Typografie für lineares Lesen

Lineares Lesen beschreibt die klassische Art des Lesens: eines nach dem anderen. Die Typografie soll hier möglichst großen Lese-Komfort bieten. Zu den Buchtypen gehören erzählende Prosa und Abhandlungen, die über viel Fließtext (also unstrukturierten Text) verfügen. Der Prototyp für lineares Lesen ist der Roman. Der Satz für lineares Lesen wie wir ihn heute kennen hat sich schon kurze Zeit nach der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern entwickelt. Tatsächlich konnte der Satz seitdem nicht mehr verbessert, sondern nur mehr modifiziert werden. 

Typografische Mittel

Durch das lineare Lesen haben sich die „klassischen“ Regeln der Buchtypografie ergeben:

  • unaufdringliche Schrift
  • Leseschriftgrad (zwischen 8 und 11 Punkt, je nach Schrift) 
  • enger Satz ohne „Löcher“, die den Lesefluss stören
  • 60–70 Zeichen pro Zeile und 30–40 Zeilen pro Seite 
  • ausgewogene Proportion zwischen Satzspiegel und Seitenrand 

Überschrift

Überschriften bieten den Gestalter:innen Spielraum bei diesem Buchtyp: Mit ihnen kann man die Individualität und den Charakter des Buches betonen. 

Auszeichnungen

Auszeichnungen sind im Mengentext integriert: klassisch sind die Kursive für Betonungen, Zitate und ähnliches, Kapitälchen werden für Eigennamen verwendet.

Beispiel der Typografie für lineares Lesen: ein Roman / Bild © Willberg und Forssman 

Gestalterischer Freiraum?

Die gestalterische Ähnlichkeit vieler Romane lässt vermuten, dass Typograf:innen wenig Freiraum hätten. Die Antiqua scheint ein Must-have, der Seitenspiegel immer derselbe. Dies ist jedoch nicht richtig. Ob ein Text gut linear gelesen werden kann, hat laut H.P. Willberg und Friedrich Forssman nichts mit einem konkreten typografischen Stil zu tun. Wenn der Text es erlaubt, können Absätze ungewöhnlich behandelt werden. Es kann auch eine Schrift gewählt werden, die sich angeblich nur für Akzidenzen eignet – wie von Sans Serif-Schriften oft behauptet wird. Eine Grotesk ist für einen Text, der linear gelesen wird, kein Problem, solange sie gut lesbar eingerichtet wird. Obwohl wir gewöhnt sind, dass Romane im Blocksatz gesetzt werden, kann man auch Flattersatz verwenden. Voraussetzung ist, dass die Satzqualität stimmt. Leser:innen dürfen nicht von einem zu aktiven Flattern oder sinnentstellten Worttrennungen abgelenkt werden. Die oben angeführten Zeichen- und Zeilenanzahl sind Faustregeln, mit denen man nichts falsch machen kann. Doch das schließt nicht aus, es auch einmal anders zu versuchen. Möchte man längere Zeilen setzen, dann muss anderswo für den Zweck der guten Lesbarkeit entgegengewirkt werden – zum Beispiel mit einer Schrift, die das Auge gut in der Zeile hält, einem etwas größeren Zeilenabstand und einem leicht getönten Papier, das ebenso angenehm auf das Auge wirkt.  

Auch eine Grotesk kann als Schrift für den Mengensatz verwendet werden – es kommt darauf an, wie gut sie hergerichtet ist. / Bild © Willberg und Forssman 
 
2 Typografie für informierendes Lesen

Informierendes Lesen meint das schnelle und diagonale Überfliegen des Textes, um einen Überblick zu gewinnen, ob die gesuchte Information zu finden ist und was genauer gelesen werden muss. Leser:innen wollen sich zu einem bestimmten Thema informieren, ohne das ganze Buch zu lesen. Zu den Buchtypen gehören Sachbücher und Ratgeber, aber auch Zeitungen. 

Typografische Mittel 

Der Text muss gut gegliedert sein: 

  • durch leicht überschaubare Einheiten 
  • durch kurze Zeilen mit circa 40–50 Zeichen pro Zeile
  • durch kurze Absätze / Abschnitte  
  • durch aktive Auszeichnungen (halbfette bis fette Schnitte, Initialen, Unterüberschriften)
  • Überschrift
  • Überschriften müssen kurze und deutlich über den Inhalt des nachfolgenden Abschnitts informieren. 
  • Auszeichnungen
  • aktive Auszeichnungen, die man liest bevor man den Absatz oder die Seite liest, z.B. halbfette Schrift, die einem ins Auge fällt
  • integrierte Auszeichnungen im Mengentext (wie bei der linearen Lesetypografie) 

Überschrift

Überschriften müssen kurz und deutlich über den Inhalt des nachfolgenden Abschnitts informieren. 

Auszeichnungen

  • aktive Auszeichnungen, die man liest bevor man den Absatz oder die Seite liest, z.B. halbfette Schrift, die einem ins Auge fällt
  • integrierte Auszeichnungen im Mengentext (wie bei der linearen Lesetypografie) 
Die Typografie zeigt, dass die Seite nicht von links oben nach rechts unten linear gelesen wird. Trotz vieler unterschiedlicher Informationen (Tabelle, Karte, Organisation mit Farbflächen, farbiger Schrift, Schriftmischung und Begriffsregister) wirkt die Seite übersichtlich und aufgeräumt. Der Rausatz (eine weniger belebte Form des Flattersatzes) sorgt für Stabilität, wirkt aber nicht so starr wie der Blocksatz. Alle Texte mit Grundschriftgrad halten auch Register (d.h. sie liegen auf dem Grundlinienraster), was dem Buch über alle Seiten hinweg Stabilität gibt. 
Bild © Willberg und Forssman 

Gestalterische Freiheit? 

Gerade die unterschiedlichen Textebenen und Inhalte, die sauber gegliedert sein wollen, müssen auch unterschiedlich gestaltet sein: Farbe, Schriftschnitte, Schriftgrade oder Schriftmischung bieten viele Möglichkeiten. Jedoch darf man nicht über das Ziel hinausschießen. Besser nach und nach unterschiedliche Absatz- und Zeichenformate einsetzen und immer kontrollieren, ob die Gliederung noch übersichtlich ist. 

Man kann aber auch durchaus Ungewöhnliches ausprobieren: Wird der Haupttext im linksbündigen Flattersatz gesetzt, könnten Legenden rechtsbündig dazu sitzen. Passt es zu Thema, kann auch mit dem Satzspiegel gespielt werden: Alle Kolumnen könnten, zum Beispiel, am unteren Seitenrand sitzen und nicht klassisch am oberen – wie im Beispiel nachfolgend. 

Freiheit der Gestaltung: Warum nicht alle Kolumnen am unteren Seitenrand sitzen lassen? / Bild © Willberg und Forssman
3 Typografie für differenzierendes Lesen 

Texte, die in sich stark mit Begriffen oder Passagen strukturiert sind, die unterschiedlich, jedoch gleichberechtigt sind, müssen typografisch differenziert gesetzt werden. Die Zielgruppe sind „Berufsleser:innen“, die eine solche differenzierende Literatur gewöhnt sind und denen man auch längere Zeilen oder vollere Seiten zumuten kann. Die Buchtypen sind wissenschaftliche Werke oder Lehrbücher. Eine besondere Form der differenzierenden Lesetypografie ist auch der Dramensatz. 

Typografische Mittel

  • gut ausgebaute Schriften, um gut differenzieren zu können: mindestens Kursiv, Kapitälchen, Halbfette und Halbfett-Kursiv
  • bis zu 80 Zeichen pro Zeile
  • ausreichender Zeichenabstand aufgrund längerer Zeilen
  • gute Vorbereitung und Probe aller typografischen Mittel
  • Detailgenauigkeit! 

Überschrift

Überschriften sollen thematisch gliedern. Durch ihre typografische Form muss man erkennen, dass sie einen höheren hierarchischen Stellenwert haben. 

Auszeichnungen

Es muss so ausgezeichnet werden, dass die Gleich-, Unter- oder Überordnung von Wörtern und Absätzen klar erkennbar ist. Dazu werden eingesetzt: Kursiv, Kapitälchen mit oder ohne Versalien halbfette Normale, Normale in Versalien, Sperrung (Abstand zwischen den Buchstaben wird fixiert), halbfette Kursive, halbfette Kapitälchen, kursive Kapitälchen, halbfette Normale in Versalien, leichte Normale, Unterstreichung, Schriftmischung, Farbe

Beispiel für differenzierende Lesetypografie mit vielen unterschiedlichen Auszeichnungen / Bild © Willberg und Forssman 

Gestalterische Freiheit? 

Da die Differenzierung mit vielen unterschiedlichen Auszeichnungen bereits die Herausforderung der Übersichtlichkeit darstellt, sollte man wenig bis gar keine dekorative typografische Gestaltung einsetzen. Es scheint besonders wichtig, den Inhalt zu verstehen, um die Typografie unterstützend einzusetzen. Durch die starke Verbindung von Inhalt und Typografie ergeben sich aber auch Möglichkeiten der gestalterischen Kreativität wie das nachfolgende Beispiel zeigt:

Auch die differenzierende Typografie bietet Möglichkeiten, kreativ zu werden: zum Beispiel, indem die Gestaltung in ihrer Form auf den Inhalt Bezug nimmt. / Bild © Willberg und Forssman 
4 Typografie für konsultierendes Lesen

Hier geht es um das gezielte Suchen von bestimmten Begriffen oder in sich geschlossenen Textpassagen. Leser:innen suchen eine konkrete Auskunft und sind deshalb besonders motiviert. Zu den Buchtypen zählen Nachschlagewerke aller Art mit Fußnoten, Anmerkungen, Register, Bibliografien, Zeittafeln u.a. Der Prototyp ist das Lexikon. 

Typografische Mittel

  • meist kleine Schriftgrade
  • gute lesbare Schrift
  • geringer Zeilenabstand
  • volle Seiten, um viel Information unterzubringen
  • oft mehrspaltiger Satz

Überschrift

Überschriften sollen so deutlich wie möglich gliedern. 

Auszeichnungen

Stichworte sollen ebenso so deutlich wie möglich ausgezeichnet werden. Andere Auszeichnungen müssen sich den Stichworten typografisch ein- oder unterordnen – je nachdem welche Funktion oder andere Leseart sie erfüllen. 

Typografie für konsultierendes Lesen soll die Suche bestimmter Begriffe unterstützen. Bild / © Willberg und Forssman

Gestalterische Freiheit? 

Gestalterische Freiheit ist bei Nachschlagewerken vor allem in der Schriftwahl und -kombination bzw. auch im Papier und Veredelung zu finden, da der oft mehrspaltige Satz und die große Textmenge wenig Spielraum auf der Seite lassen. Es gibt Schriften, die eigens für den Einsatz in Lexika gezeichnet wurden, da sie auch in kleiner Schriftgröße für optimale Lesbarkeit sorgen. Hier gilt es sich für den Mengentext genau umzuschauen. Die Kombination von Grotesk und Antiqua lockert auf – zudem können Linien oder andere grafische Elemente für eine bessere Gliederung sorgen und bringen gleichzeitig Dynamik ins Bild. 

Auch ein Nachschlagewerk gibt die Möglichkeit, mit gestalterischen Mitteln wie Linien Dynamik in den Satz zu bringen. / Bild © Willberg und Forssman 
5 Typografie für selektierendes Lesen

Soll selektierend gelesen werden können, muss das Buch inhaltlich und typografisch in verschiedene Ebenen gegliedert werden. Diese Ebenen können in Verbindung miteinander oder unabhängig voneinander gelesen werden – müssen also in beiderlei Hinsicht funktionieren. Zu den Buchtypen gehören all jene Bücher mit verschiedenen Inhalten, bei denen Teile der Seiten einzeln aufgesucht werden, zum Beispiel didaktische Bücher (Schulbücher) oder Kochbücher (mit Zutatenliste und Kochanleitung). 

Typografische Mittel

  • Gebot ist die eindeutige typografische Trennung der verschiedenen inhaltlichen Ebenen
  • dies kann mit allen typografischen Mitteln erreicht werden 
  • Typografie für selektierendes Lesen kann in der Regel nicht programmiert werden, sondern erfordert eine Bearbeitung des Layouts von Seite zu Seite.

Überschrift

Überschriften müssen klar in ihrer hierarchischen Stellung erkennbar und dem entsprechenden inhaltlichen Abschnitt zuzuordnen sein. 

Auszeichnungen

Wie bereits bei den typografischen Mitteln erwähnt, steht das gesamte typografische Repertoire zur Auszeichnung zur Verfügung: Kursive, Kapitälchen, Versalien, Halbfette, Unterstreichung, Farbe, Rastermarkierung, Rahmen, etc. 

Die Gestaltung sollte jedoch nicht überstrapaziert werden, da ansonsten Verwirrung droht. Symbole sollten nur dann verwendet werden, wenn sich die Bedeutung von selbst erklärt und diese nicht erst erklärt werden muss. (Ausnahme: Ein wiederkehrendes Symbol-Repertoire für das gesamte Buch, das zu Beginn einmal erklärt wird und sich in jedem Kapitel wiederfindet). 

Typografie für selektierendes Lesen muss Ebenen klar voneinander trennen, da manchmal nur Teile des Textes von Interesse sind. Bild / © Willberg und Forssman

Gestalterische Freiheit?

Gestalter:innen genießen volle Freiheit bei der Wahl passender Auszeichnungen. Da Lehrbücher vor allem für selektierendes Lesen gesetzt werden und nicht alle Lernenden gleichermaßen motiviert sind, ist es gut, wenn die Gestaltung den Rezipienten Spaß macht. Die Grenze der Gestaltung liegt jedoch dort, wo die Übersichtlichkeit zu leiden beginnt. Die Orientierung hat auch für selektierendes Lesen oberste Priorität. 

Besonderes Beispiel für selektierendes Lesen: ein kirchliches Gesangsbuch. Alles, das gesungen wird, steht in der Normalen – entweder unter den Noten oder in den Textstrophen. Alles, was zur Orientierung dient, ist in Versalien oder Kapitälchen gesetzt: lebender Kolumnentitel, Überschrift, Quellenhinweis). Was auf andere Textstellen im Buch verweist oder diese zitiert, steht kursiv. Die große Liednummer ist für konsultierendes Lesen gedacht – sie dient dem Finden des Liedes. / Bild © Willberg und Forssman
6 Typografie nach Sinnschritten

Hier wird der Zeilenfall (Umbruch) nach dem Sinnzusammenhang des Satzes gegliedert und nicht nach formalen Vorgaben. Dieser typografische Satz kommt vor allem bei Texten für Leseanfänger:innen zum Einsatz. Darüber hinaus kann Typografie nach Sinnschritten bei allen kurzen Texten eingesetzt werden, deren Umfang es zulässt, sie zeilenweise zu strukturieren und deren Inhalt schnell erfasst und sicher verstanden werden soll. Die inhaltsabhängige Gliederung wird entweder von den Autor:innen selbst oder vom Typografen Zeile für Zeile vorgenommen – diese Art des Satzes lässt sich also nicht programmieren. Geschichten für Lesebücher werden nicht nach Zeilenfall geschrieben. Hier müssen Typograf:innen den Text so lesegerecht organisieren, dass eine Balance zwischen sinngemäßen Zeilenumbrüchen und Flattersatz besteht. Der Flattersatz sollte dabei abwechslungsreich, aber nicht zu aktiv sein. 

Buchtypen bzw. Buchteile umfassen Fibeln, Bilderbücher, Lehrbücher für Fremdsprachen, Textaufgaben und Bildlegenden. Willberg und Forssman geben zudem an, dass Überschriften und Unterüberschriften immer nach Sinnschritten gesetzt werden sollen. Beim Impressum sollten ebenso möglichst sinnvolle Trennungen vorgenommen werden, jedoch sollte das Satzbild trotzdem zusammenhängend erscheinen.

Typografie nach Sinnschritten gliedert die Zeilenumbrüche nach ihrem Inhalt. / Bild © Willberg und Forssman
Wenn Kapitelüberschriften länger sind, laufen sie im Inhaltsverzeichnis gerne über zwei oder mehrere Zeilen. In diesem Fall dürfen sie nicht über die gesamte Breite gehen, sondern müssen sinngerecht unterteilt werden. / Bild © Willberg und Forssman
7 Aktivierende Typografie 

Aktivierende Typografie soll zum Lesen verleiten. Die Zielgruppe sind Leser:innen, die eigentlich gar keine sein wollen oder zumindest nicht geplant hatten, zu lesen: Schüler:innen, die kein richtiges Interesse zeigen oder Käufer:innen, die verleitet werden sollen, ein Buch in die Hand zu nehmen oder weiter darin zu lesen. Ganz unterschiedliche Bücher können aktivierend gesetzt sein – vom Schul- oder Sachbuch bis zum Geschenkbuch. Prototyp wäre nach Willberg und Forssman das Magazin. 

Typografische Mittel

  • es gibt im Grunde keine typografischen Einschränkungen
  • das Motto: anders sein, auffallen, neugierig machen! 
  • aktivierende Typografie funktioniert wie Werbetypografie und ist eine schöne Spielwiese für kommunikationsorientierte Designer:innen 

Überschrift

Überschriften sollen auffällig sein und Leser:innen einfangen. 

Aktivierende Typografie soll Aufmerksamkeit auf sich ziehen und zum (Weiter-)Lesen verleiten. / Bild © Willberg und Forssman
8 Inszenierende Typografie 

Inszenierende Typografie soll den Text durch seine Gestaltung steigern, interpretieren oder sogar verfremden, aber nicht dekorativ gegen die Sprache arbeiten. Diese gestalterische Inszenierung richtet sich an Leser:innen, die Spaß an Typografie haben und Anspielungen oder formale Zitate verstehen und schätzen. Manche Leser:innen sind sogar bereit, sich mit der Gestaltung soweit auseinanderzusetzen wie Theaterbesucher:innen mit der neuen Inszenierung eines Stücks. 

Fast alle Buchtypen können inszenierende typografische Elemente enthalten. Ausnahmen sind Bücher mit strikten Strukturen wie Lexika. Den typografischen Mitteln sind keine Grenzen gesetzt: ob Buchstaben, Worte, Zeilen oder die ganze Seite, alles kann von strenger bis freiester Gestaltung reichen.

Die inszenierende Typografie unterscheidet sich vom Kalligramm oder der visuellen Poesie insofern, dass bei zuletzt genannten Form und Aussage identisch ist.

Die inszenierende Typografie ist keine Dekoration: Sie unterstützt den Text, indem sie ihn inhaltlich interpretiert oder verfremdet. / Bild © Willberg und Forssman
Grenzen der Lesetypografie

Die beleuchteten Lesearten kommen in der Praxis nicht immer unabhängig voneinander vor, ganz im Gegenteil. Ein Buch wird häufig auf unterschiedliche Arten gelesen. Ein Beispiel: Man liest ein Lexikon zuerst konsultierend bis man einen Begriff gefunden hat, liest den Eintrag dann informierend (also überfliegt ihn, ob er das bietet, was man sucht), liest ihn linear Wort für Wort oder differenziert, weil seine Struktur dies erfordert. Die Typografie muss dann allen Lesearten gerecht werden. 

Lesetypografie bezieht sich immer auf Gebrauchsbücher. Es gibt auch Bücher, die nicht nur das Transportmittel für den Inhalt sind, sondern auch andere Anforderungen erfüllen müssen. Diese Bücher kann man nicht oder nur teilweise anhand der Systematik von Willberg und Forssman gestalten. Zu solchen Werken zählen, zum Beispiel, Künstler-Bücher, bei denen sich Form, Inhalt und Material verbinden und die als typografisches Experiment funktionieren. Auch visuelle Poesie, bei denen die Typografie Teil der Aussage ist oder typografische Arbeiten, bei denen der Inhalt zweitrangig ist gehören zu diesen Büchern. Auch Typografie für Webseiten muss nochmals besondere Ansprüche erfüllen. Einerseits kommen hier viele unterschiedliche Lesearten zum Einsatz, andererseits auch andere Typografiearten ins Spiel. Anhand der Navigation muss man sich orientieren können, einige Teile der Webseite sollen im Sinne der Dekorationstypografie vielleicht einfach „nur“ gefallen oder im Sinne der Werbetypografie Aufmerksamkeit erregen. Und auch die von Willberg und Forssman betitelte „Designtypografie“ kann bewusstes Mittel zum Zweck sein, um sich avantgardistisch oder fortschrittlich zu zeigen. 

Wichtig ist auch, dass die vorgestellten Lesearten und die damit einhergehenden typografischen Regeln nicht statisch sind. Verändert sich die Gesellschaft, verändern sich auch Lesegewohnheiten. Wie liest man etwa auf Instagram oder Facebook? Auch innerhalb der Buchtypografie gibt es einen steten Wandel. Schulbücher sollen eine Einladung zum Lernen sein und unterhalten, Romane werden zum Teil inszeniert und auch wissenschaftliche Bücher sind heute definitiv „lockerer“ gestaltet als vor einigen Jahren. Willberg und Forssman argumentieren jedoch, dass diese Veränderungen neben allen Regeln existieren können. Denn einer Frage muss die Typografie immer bestehen können: Funktioniert sie als typografisches Transportmittel für die Anforderung an den Text? Um diese Frage schlussendlich bejahen zu können, ist die Systematik der Lesearten sehr hilfreich. Steht man am Beginn eines typografischen Projektes, bei dem ein Lesetext gesetzt werden soll, müssen sich Gestalter:innen fragen: Was will der Text eigentlich machen? Eine Antwort lässt sich leichter anhand der unterschiedlichen Lesearten finden – und dann ist man der typografischen Lösung schon ein großes Stück näher. 


Literatur

Willberg, Hans Peter und Forssman, Friedrich. Lesetypografie. Mainz: Hermann Schmidt, 2010. 

Typografie und Lesen

Basiswissen zum Lesen nach Susan Weinschenk

Die Typografie und das Lesen sind untrennbar miteinander verbunden. Sobald Menschen lesen können und die Schrift beherrschen, in dem ein Text gesetzt wurde, erkennen wir Buchstaben, setzen sie zu Worten und Sätzen zusammen und verstehen Bedeutungen. Dieser immanente Zusammenhang zwischen Text und Lesen legt auch die Verbindung von Typografie und Lesen offen. Beeinflusst die Typografie die Gestalt des Textes, liegt es nahe, dass sie auch beeinflusst, wie dieser Text wahrgenommen und gelesen wird. Darüber hinaus ist Typografie die formale Grundlage dafür, wie gut oder schlecht ein Text zu lesen ist. Aus diesem Grund möchte ich diesen Beitrag dem Zusammenhang von Typografie und Lesen widmen. 

Was passiert, wenn wir lesen?

Man mag glauben, dass Lesen ein linearer Prozess vom Anfang eines Wortes, Satzes oder Textes bis zu dessen Ende ist. Das ist jedoch nicht der Fall. Unsere Augen springen in schnellen und zackigen Bewegungen hin und her und stehen dazwischen nur für kurze Zeit still. Die Sprünge nennt man Sakkaden und die Momente des Stillstands Fixierungen. Eine Sakkade umfasst ungefähr sieben bis neun Buchstaben, eine Fixierung dauert circa 250 Millisekunden. Während der Sprünge sieht das Auge nicht, jedoch sind die Bewegungen so schnell, dass wir diese gar nicht wahrnehmen. Während der meisten Sakkaden sind unsere Augen nach vorne im Text gerichtet, bei 10 bis 15 Prozent blicken sie zurück, um Buchstaben oder Worte nochmals zu lesen. 

Die Sprünge unserer Augen beim Lesen nennt man Sakkaden. / Bild © Susan Weinschenk

Zusätzlich zu den Sakkaden verwenden wir beim Lesen auch noch das periphere Sichtfeld, um vorauszusehen, was als nächstes kommt. Insgesamt lesen wir circa 15 Buchstaben auf einmal, wobei vor allem die ersten sieben Buchstaben semantisch erfasst werden. (Vgl. Weinschenk 2011:31).

Großbuchstaben versus Kleinbuchstaben

Im Laufe der gestalterischen Praxis begegnet man unweigerlich dem Mythos, das Großbuchstaben schlechter zu lesen seien als Kleinbuchstaben. Argumentiert wird dies mit der Form der Buchstaben, die bei Kleinbuchstaben wesentlich stärker variiert als bei Großbuchstaben. Jedoch ist es laut Weinschenk (2011:30) nicht wissenschaftlich belegt, dass uns die Form von Buchstaben beim Lesen helfen würde. Vielmehr antizipieren wir Buchstaben (wie bereits zuvor beschrieben) und erkennen Worte auf Basis der der Buchstabenfolge. Da wir jedoch nicht so sehr an das Lesen von Großbuchstaben gewöhnt sind, lesen wir diese tatsächlich langsamer als Kleinschreibung oder gemischte Groß- und Kleinschreibung. Dies ist der eigentliche Grund, warum Gestalter:innen Texte nicht ausschließlich in Großbuchstaben setzen sollten – es verlangsamt den Lesefluss. Zudem haben Großbuchstaben eine betonende Wirkung. Möchten wir Worte oder Textteile besonders hervorheben – sie „schreien“ lassen –, setzen wir sie in Großbuchstaben. (Vgl. Weinschenk 2011:30-31)

Serif versus Sans Serif

Ein weiterer Mythos betrifft die Debatte, ob Serif- oder Grotesk-Schriften leichter zu lesen wären. Der Argumentation, Grotesken wären leserlicher weil einfacher in der Form steht die Behauptung gegenüber, Serifen würden den Lesefluss unterstützen, da sie das Auge zum nächsten Buchstaben leiten würden. Laut Weinschenk (2011:37) gibt es jedoch auch hier keinen wissenschaftlichen Beweis, dass entweder die eine oder die andere Schriftklasse das Verständnis oder die Lesegeschwindigkeit beeinflussen würden. 

Wir erkennen Buchstaben anhand ihrer Form. Das bedeutet, dass wir die Grundform eines A gelernt und gespeichert haben. Sobald wir nun einer Form begegnen, die der gelernten A-Form entspricht oder ähnelt, erkennen wir ein A darin. Aus diesem Grund können wir ganz unterschiedliche Schriften von Grotesk bis Kalligrafie lesen, auch wenn wir diese noch nie zuvor gesehen haben. An die Grenze stoßen wir beim Lesen dann, wenn Schriften die Buchstaben-Formen nicht mehr gut erkennen lassen. Wenn wir Probleme haben, die Schrift zu lesen, beeinträchtigt dies den Lesefluss und die Lesegeschwindigkeit massiv. Zudem hat eine solche Beeinträchtigung auch Einfluss darauf, wie Leser:innen den Text interpretieren. Eine Untersuchung von Hyunjin Song und Norbert Schwarz hat gezeigt, dass Menschen Turnübungen als schwieriger oder einfacher einstufen, je nachdem wir schwierig oder einfach der Text zu lesen ist. Wird die Anweisung in einer gut lesbaren Grotesk gesetzt, stufen Leser:innen die Übung als einfacher und kürzer ein als dieselbe Übung mit einer Anweisung in einer schwer lesbaren Script. (Vgl. Weinschenk 2011:38-39). 

Obwohl der Inhalt derselbe ist, stufen Leser:innen die Übung beim ersten Text als einfacher ein als beim zweiten Text. / Bild © Susan Weinschenk

Screen versus Papier

Texte sind auf einem Display schwerer zu lesen als auf dem Papier. Dies betrifft vor allem längere Texte. Der Grund liegt im Unterschied der Oberflächen. Ein Computer-Screen aktualisiert das Bild kontinuierlich, was es instabil macht. Zusätzlich wird der Text von hinten beleuchtet. Beides ermüdet das Auge nach längerer Lesezeit. Gedruckte Texte auf Papier sind stabil – werden also nicht aktualisiert. Zudem reflektiert das Papier das Licht. E-Book-Reader ahmen den Eindruck von Tinte auf Papier nach, halten das Schriftbild stabil und reflektieren ebenso das Licht anstatt den Text zu beleuchten. 

Um trotzdem eine gute Lesbarkeit am Bildschirm zu gewährleisten, sollte die Schriftgröße nicht zu klein sein und vor allem ein möglichst großer Kontrast zwischen Hintergrund und Text bestehen. Schwarzer Text auf weißem Hintergrund ist demnach am besten zu lesen. Ähneln sich Hintergrund- und Textfarbe verschwimmt das Bild. Auch weißer Text auf schwarzem Hintergrund ist schwer zu lesen, da der schwarze Hintergrund dominiert und zarte weiße Buchstaben verschwimmen.  

(Font) Size matters

Die Schriftgröße beeinflusst die Lesbarkeit von Texten maßgeblich. Ist ein Text zu klein, wird das Lesen zur Anstrengung. Bei der Größenwahl ist dabei unbedingt auf das tatsächliche Erscheinungsbild zu achten und nicht nur auf die Punkt-Zahl. Je nach x-Höhe wirken Schriften mit derselben Punkt-Größe größer oder kleiner. Je höher die x-Höhe, desto leichter sind Schriften am Bildschirm zu lesen. Aus diesem Grund haben Schriften wie Verdana, die eigens für Screens gezeichnet wurden, eine besonders hohe x-Höhe. 

Je höher die x-Höhe einer Schrift, desto größer wirkt sie. / Bild © Susan Weinschenk

(Line) Length matters 

Ob für eine Webseite oder ein gedrucktes Werk, beim Setzen von Fließtext muss man irgendwann auch über die Satzbreite (Zeilenlänge) entscheiden. Aus Sicht der Leser:innen ergibt sich hier ein signifikanter Unterschied: Obwohl Menschen längere Zeilen mit circa 100 Zeichen schneller lesen, favorisieren sie kürze Zeilen mit circa 45 bis 72 Zeichen. Der Grund liegt in den zuvor beschriebenen Sakkaden. Mit dem Beginn einer neuen Zeile wird der Fluss von Sakkaden und Fixierungen gebrochen, was das Lesen verlangsamt. Je nachdem, ob nun die Lesegeschwindigkeit im Vordergrund steht oder dass Leser:innnen das Erscheinungsbild des Textes mögen, sollte man sich für einen breiteren oder schmäleren Satz entscheiden. (Vgl. Weinschenk 2011:43) 


 Literatur

Weinschenk, Susan. 100 Things Every Designer Needs to Know About People. Berkeley, CA: New Riders, 2011. 

Es ist notwendig, unserem Denken eine neue Orientierung zu geben.

Bevor ich die Geschichte endgültig Geschichte sein lasse, möchte ich im finalen Beitrag des Wintersemesters auf Armin Hofmanns Lehre eingehen. Hofmann war nicht nur ein maßgeblicher Former des Swiss Style, sondern speziell in der Ausbildung ganzer Generationen von Designern und Lehrern eine Persönlichkeit von weitreichendem Einfluss. Viel von seinen Einstellungen zur Lehre ist dokumentiert und zeigt ein Spannungsfeld der Bildung zwischen Kunst und kommerzieller Nutzung – relevant wie eh und je.

In einer Zivilisation, die das Gewicht zunehmend auf die wissenschaftlich-technische Bildung legt, muss sich die gestalterische Ausbildung mit der Gegenwelt und ihren Prinzipien auseinandersetzen, um das wichtige Gleichgewicht der Kräfte als Lehrziel verfolgen zu können.

Armin Hofmann

Zwei Grundprobleme

Zwei konkrete Grundprobleme, die in der heutigen Zeit ebenfalls sehr gut beobachtbar sind, waren für Hofmann zu Beginn der Ausbildung in Berufe der Gestaltung bemerkbar: zum einen eine grundsätzlich falsche Vorstellung des Aufgaben- und Berufsbild des Gestalters und zum anderen eine sehr oberflächliche, rein modisch-ergebnisorientierte Herangehensweise an gestalterische Aufgaben. Speziell der zweite Punkt lässt sich in einer Welt, wo Behance, Instagram und Pinterest die Schnelllebigkeit von Gestaltungslösungen enorm beschleunigt haben, ebenfalls sehr gut beobachten. Kurzlebige visuelle Trends werden ohne hinterfragen der thematischen Eignung imitiert. Für Hofmann war eine Abkehr von Fragen des Geschmacks und Moden eine logische Konsequenz dieser Tatsache.


Vor allem in der Sekundarstufenausbildung lässt sich für mich das Problem des mangelnden Realitätsbezugs zur Berufswelt ebenfalls feststellen und bedarf definitiv neuer Ansätze und früher Aufklärung in der Ausbildung. Aber auch im Hochschulbereich nimmt der persönliche Interessen- und Stärken-Findungsprozess einen breiten Bereich der Ausbildungszeit ein. In der Schweiz soll das System von Vorkurs und Propädeutikum diese Problemstellungen lösen.

Grundlagenlehre und Praxisbezug

Die Schweizer Ausbildung im allgemeinen und Hofmann im Speziellen sind bekannt für exzessive Beschäftigung mit Grundformen und Grundlagen. Für ihn bildeten Kompositionsübungen mit Punkt, Linie und Fläche zum Erarbeiten von gestalterischen Aspekten eine zentrale Form seines Unterrichts. Kritisch könnte man die sehr theoretische Natur dieser Übungen betrachten. Allerdings wirkte Hofmann konsequent auf die Aufhebung der Grenzen zwischen praxisorientierten Resultatarbeiten und rein schulischen Übungsarbeiten hin.

Wer aus einem Linienraster Fallendes, Aufsteigendes, Gegensätzliches oder Abstrahlendes herausschälen kann, hat den ersten Schritt zur Anwendung getan. Anders dürfen wir die Tätigkeit innerhalb der angewandten künstlerischen Berufe nicht verstehen denn als Dienstleistung zur Sichtbarmachung von Mitteilungen, Ereignissen, Ideen, Werten aller Art.

Armin Hofmann

Übungen mussten für ihn zu einem sichtbaren, verständlichen und verwendbaren Resultat führen. Das Vernetzen von Denken und Handeln und weiter die Aufhebung der Trennung von gefühlsbetontem, spontanem Arbeiten und systematischen, gedanklichen Arbeiten waren Hofmanns didaktische Doktrin. Daraus ergab sich für ihn eine Auflösung der Trennung zwischen künstlerisch orientierten und kommerziellen Arbeiten. All diese Ansätze lassen sich stimmig mit Hofmanns eigenem Stil und Arbeitsweise (er lies die Grenze zwischen Lehrtätigkeit und persönlichem Schaffen ebenfalls verschwimmen) in Einklang bringen – seine sehr auf Grundformen und Reduktion bedachten Arbeiten passen stimmig in diese Kombination von reduzierter Basis-Ausbildung zum praxisorientierten Schweizer Stil. Ob sich diese direkte Übersetzbarkeit heute noch halten lässt, möchte ich hier offen lassen, zweifelsohne spielt für mich aber die Auseinandersetzung mit Grundlagen in der Lehre auch heute eine wichtige Rolle um System-/Technologieunabhängige Prinzipien der visuellen Kommunikation zu lehren.

Reale Projekte oder Platz für Experiment

Für Hofmann war es ebenso wichtig, sich die Lehrmethodik nicht von der Praxis diktieren zu lassen – er hatte eine sehr kritische Einstellung der Werbung und ihrer Methoden gegenüber. Ein Wagnis einzugehen, Platz für Experiment und Irrtum zu lassen, Selbstständigkeit im Denken, Entdecken, Erfinden und Erschaffen zu lassen war für ihn wichtiger, als zurzeit angesagten Strömungen zu entsprechen. Die Schule sollte eine differenziertere und ernsthaftere Haltung der Praxis entgegenstellen und das gesamte Feld der visuellen Kommunikation mit möglichen Neu-Deutungen als Basis haben und nicht einem labil agierenden Werbesektor gefallen wollen. Auch diese Einstellungen haben nichts an Realitätsbezug verloren, ein Unterricht, der dem täglichen Bedarf der Praxis entspricht und dementsprechende Aufgabenstellungen beinhaltet ist sicherlich für einen zukünftigen Designer*in als Vorbereitung auf die Arbeitswelt von Vorteil, andererseits werden dadurch mögliche individuelle Entwicklungen und neue Denkansätze weg von Kommerz unterbunden. Dieses Spannungsfeld ist sicherlich in einer aktuellen Designausbildung eine zu lösende Frage und braucht wohl einen gesunden Kompromiss.

Lehrziele sollten nicht an dem gemessen werden, was gerade auf der Straße passiert, sondern an den Aufgabenstellungen selbst.

Armin Hofmann

Gestaltungsprozess

Zu Beginn eines Gestaltungsvorganges sollte keine fixe Idee des Ergebnisses stehen, kein fertiges Konzept oder Regelwerk mögliche Richtungen vorgeben. Im Beginn eine gefühlsmäßige Herangehensweise, die Schritt für Schritt, Versuch und Irrtum zulässt. Variieren, ausprobieren, verwerfen. Diese Herangehensweise erfordert die Fähigkeit zur Selbstkritik um das eigene Werk zu hinterfragen und auch über Bord werfen zu können. Übermäßige technische Möglichkeiten und Mittel waren für ihn oft hinderlich daran, zum Kern des Themas vorzudringen. Je weniger Mittel er brauchte, umso stärker war für ihn der Ausdruck seiner Arbeit. Vor allem der Raum für Experiment und Versagen ist heute sehr dünn. Eine direkte Verwertbarkeit ist mangels Zeit oft der Motor von sehr zielgerichteten und dadurch aber auch archetypischen und gleichförmigen Lösungen – meist schon im Voraus bekannt.

Zu stark praxisbezogene Ausbildung

Schon zu Hofmanns Zeiten war das Berufsbild des Grafikers/der Grafikerin im ständigen Wandel begriffen, zwischen politischen, kommerziellen, technologischen, modernistischen und rein künstlerischen Einflüssen hin und hergerissen. Seine Aufgabe als Lehrer und Erzieher sah er darin, Menschen auf das Mitwirken am Aufbau einer Gesellschaft vorzubereiten, welche auf einen ehrlichen Kräfteaustausch ausgerichtet ist. Umso mehr empfand er es als kritisch, eine Ausbildung zu konkret auf die Bedürfnisse der aktuellen Grafik auszulegen – zu sehr stand und steht der Beruf in ständiger Entwicklung. Schon zu seinen Zeiten wurden aufgrund der Mechanisierung immer mehr Berufe in jenen des visuellen Gestalters integriert, waren es damals Berufe wie Lithograf und Graveur so sind es heute Bildbearbeiter, 3D Artist oder Animation-Designer. Diese Problematik hat sich seit Hofmann mindestens gehalten, eher aber verstärkt und stellt heute gleichermaßen Probleme in der Ausbildung dar – welche Bereiche soll/muss man heute abdecken? Was ist unverzichtbar um als Gestalter im Berufsalltag bestehen zu können? Was ist Basis, was spezialisierung? Hofmann forderte eine Neu-Besinnung und Ordnung der Ausbildungen, er sprach sich für eine Abwendung vom Resultatsdenken und ein Fokus auf eine Basisausbildung zum Verstehen der grundlegenden Zusammenhänge; in grafischer Hinsicht waren dies für ihn Linie, Fläche, Farbe, Material, Raum und Zeit. Ständiger Reformwille war für ihn eine zwingende Notwendigkeit im Schulwesen.

Beschränkte sich vor einigen Jahren die Tätigkeit des Grafikers zur Hauptsache auf die Kreation von Plakaten, Inseraten, Verpackungen, Zeichen oder Logos, so hat sich sein Wirkungsfeld heute ausgeweitet und umspannt praktisch jedes Gebiet der Darstellung und Formgebung.

Armin Hofmann

Verantwortung

In den Mitteln, die Gestalter in die Hände gelegt wurden, sah Armin Hofmann gewichtige Werkzeuge um eine Gesellschaft zu formen, daraus folgerte ein sehr verantwortungsbewusster Umgang mit ihnen. Großes Wissen ist Voraussetzung für den weisen und verantwortungsvollen Einsatz dieser Mittel. Gerade in Zeiten, in denen schöpferisch-künstlerische Berufe weniger werden, mussten die wenigen übrig bleibenden umso grundlegender und umfassender ausgerüstet sein. In der Schule sah er den Platz für Versuch und Experiment, in einer Arbeitswelt, die keine Toleranzen mehr bietet und immer auf die Auswertbarkeit der Arbeit konzentriert ist. Hofmanns Vision der Schule war ein »Institut, das Veränderungen in unseren Verständigungssystemen registrieren, Gefahren sichtbar machen und Forschung betreiben sollten, innerhalb der visuell wahrnehmbaren Welt.« Das Ziel seiner Ausbildung war ein handwerklich einwandfreies Können, ein klares Wissen um die Gestaltungsgesetze sowie die Fähigkeit, aufgrund einer gestellten Aufgabe einen Gedanken auf klare eigene Weise ins Bildhafte umzusetzen. Es sollte eine stabile Grundlage geschaffen worden wein, auf der die Persönlichkeit der Schüler weiter wachsen und reifen könne.

Seit Hofmanns Zeit hat sich vieles geändert. Man denke an Computer-Technologie, Frauenwahlrecht in der Schweiz (eingeführt 1970) und moderne Berufsbilder. Dennoch haben viele seiner Probleme einen erstaunlichen Aktualitätsbezug – auch wenn wir das Gefühl haben auf einem Schnellzug stehend auf eine Pferdegespann zurückzublicken. Diese Verzerrung einer rückwärts gerichteten Betrachtungsweise wird uns aber wohl auch in 20 Jahren gleich erscheinen, wenn wir dann vom Flugzeug aus auf unseren heutigen Schnellzug zurückblicken. Dieser Berufssparte immanent ist konstante Veränderung – wenn man in die Agenturen schaut, sieht man wenige »alte« Grafiker, sondern viele junge Menschen die mit Leidenschaft ans Werk gehen, sich im Laufe ihres Lebens aber in alle Richtungen verstreuen. Eine breite, solide Basis ist ein gutes Fundament, um die vielen Varablen des Gestalterlebens abdecken zu können. Die Aufgabe der Ausbildung muss es sein, dieses Fundament zu gießen, viel eher als verspielte Verzierungen im Dachgeschoss zu bauen. Die Art und Weise, wie so ein Fundament aussehen muss, ist natürlich seit Hofmann nicht gleich geblieben. Aber auch gerade dieser Aspekt ist ein Spannender dieses Themas: welche Grundlagen sind auch heute noch Grundlagen? Oder unterrichten wir sie nur, weil sie seit 100 Jahren unterrichtet werden? Was sind die Konstanten und welche Aspekte mussten und müssen hinzukommen, um aktuelle Aufgabenfelder abzudecken? Diese Fragen will ich nicht nur mir selbst stellen, sondern im kommenden Semester möglichst vielen Menschen, die das breite Feld der visuellen Kommunikation lehren.

Werbung ist implizit, Wahrnehmung individuell

Man sagt sogar, Werbebotschaften sollen am besten am Piloten vorbei direkt zum Autopiloten gelangen. Eine direkte Aussage sei in den meisten Fällen unwirksam. Daher muss ganz sensibel an das Kernmotiv herangeführt werden.

Es ist nicht unbedingt nötig, für eine implizite Werbung das Produkt großflächig im Vordergrund zu halten. Die Marke wird durch anderes veemittelt. Dafür muss man zuerst verstehen, was für Motive das zu bewerbende Produkt eigentlich hat. Hier sind wieder einmal Zielgruppe und Produktrecherche enorm wichtig. Wie wirkt das Produkt ect. von sich aus und was kommuniziert es?

Bedeutung alleine reicht für den Erfolg von Markenkommunikation nicht aus. Erst durch den Anschluss an relevante Motive lösen wir beim Kunden gewünschtes Verhalten aus.

Das Motiv wird nun in einen visuellen Code gepackt. Für diesen gibt es vier relevante Ebenen: Sprache, Geschichte, Symbolik und Sensorik. Sprache ist der explizite Code. Text oder Apell zum Beispiel. Die Geschichte gibt den Kontext für das abgebildete Geschehen. Symbolik wird von einzelnen Elementen und eben ihren Bedeutungen im Kontext vermittelt. Die Sensorische Wirkung impliziert Emotion – zum Beispiel durch eine bestimmte Farbwahl. Dieses Codesystem kann bei verschiedenen Werbeplakaten beobachtet und auf eigene Beispiele angewendet werden.

Text, ein angespanntes Gesicht eines Mannes, verschiedene symbolische Elemente und eine kühle Farbe erzählen uns etwas. Die Marke oder das Produkt sind nicht das Hauptmotiv.

Bilder sind wirkungsmächtig. Sie erfüllen ihren Zweck – informieren, emotionalisieren ect. Damit ist nicht gemeint, dass sie eine Wahrheit wiedergeben. Der Mensch reagiert aber trotzdem immer sofort auf sie und ist ihnen sozusagen ausgesetzt. Damit ist die Abbildung ein Werkzeug, dessen Bedienung erlernt werden kann und das immer eine Aufgabe hat und nach Benutzung eine Folge hat.


Brink, C. Bildeffekte: Uberlegungen zum Zusammenhang von Fotografie und Emotionen. In: Geschichte und Gesellschaft, 37. Jahrg., H. 1, Geschichte, Emotionen und visuelle Medien (Januar – März 2011), pp. 104-129.

Held, D. Scheier, C. Wie Werbung Wirkt: Erkenntnisse des Neuromarketings. Haufe Verlag, 2006.

Selbst- und Fremdbild im Design

Auch im Design ist die Rede von einem Selbst- und einem Fremdbild. Das Selbstbild ist das, was der oder die Designer:in mit dem Markenaufbau schafft. Es werden Farben und Schriften gewählt, die das Unternehmen repräsentieren und gleichzeitig eine Botschaft ausstrahlen. Das Logo soll jene verpackten Botschaften sicher bei Enverbraucher:innen abliefern. Dies kann nur dann passieren, wenn das Selbstbild eines Unternehmens – im Fach Jargon „Coporate Identity“ stimmig ist. Es ist wichtig  den Charakter des jeweiligen Produkts zu verkaufen und zu bewerben.

Selbst- und Fremdbild aka. Identität und Image

Um diesen Charakter den zuvor bestimmten Zielgruppen zu übermitteln reicht ein Logo alleine nicht aus. Eine ganze Geschicht muss rundherum gewoben werden. Kund:innen müssen in der Lage sein das Produkt oder die Firma auch ohne das Logo zu erkennen. Hierbei können Farbe, Schriften, diverse Formatierungen oder aber auch bestimmte Bildsprachen als Werkzeug eingesetzt werden. Große Erfolge diesbezüglich können auch erzielt werden, wenn man alle menschlichen Sinne in betracht zieht. Der Konzern Apple zum Beispiel aktiviert den Geruchsinn der Kundschaft. Neue Apple Geräte werden mit einer Art Parfum besprüht. Dieser neue, bestimmte Geruch eines neuen Geräts ist einzigartig und manifestiert sich im Sinnesapparat eines Menschen. Aber auch der Tastsinn kann ohne weiteres mithilfe von verschiedenen Materialitäten aktiviert werden. So könnte man zum Beispiel Visitenkarten auf besonderem Papier drucken und damit in Erinnerung bleiben. Folgende Punkte sollten beim Aufbau einer Marke berücksichtig werden: 

Zeichen- + Symbolwelt der Marke

  • Bildmarke (Signet)
  • Wortmarke (Logo)
  • Kombinierte Wort-/Bildmarke (Signet mit Logo)
  • Konzepte für grafische Darstellungen, z. B. Piktogramme, Geschäftsgrafiken, Tabellen u. a. m.

Farb- und Lichtwelt der Marke

  • Marken-Identifikationsfarben
  • Farbklima
  • Lichteinsatz, z. B. bei Ausstellungen, Messen, im Verkaufsraum u. a. m.

Markentypografie

  • Hausschrift
  • Schriftschnitte
  • Satzform, Anwendung u. a. m.

Bildsprache der Marke

  • Ausschnitte
  • Abstraktionsgrad
  • Perspektive
  • Farbigkeit u. a. m.

Conclusio

Um ein gesundes Image zu erlangen muss man zuerst an seinem Selbstbild arbeiten. Dies gilt für Menschen als auch für Firmen. Ein einfaches Prinzip, welches in vielen Bereichen angewandt wird. Zwecklos ist es in jedem Fall zuerst zu versuchen an dem Fremdbild etwas zu ändern. Es verhält sich hier ähnlich wie bei den Selfies. Es ist eine Endlosschleife – ein ewiges Ping-Pong zwischen Selbst- und Fremdbild. Ein Kreislauf, der nur unterbrochen werden kann, wenn das, was wir im Stande sind in die Welt zu senden auch tatsächlich so ist, wie wir uns erwarten, dass es wahrgenommen wird.

Quellen:
https://www.vv-grafikdesign.com/blog/ich-lese-ueberall-corporate-design-aber-ich-will-doch-nur-ein-logo/
https://heymel-marketing.de/corporate-design-und-markenbilder/
https://pixelproduction.de/branding/corporate-design/

Wahrnehmung mit und in der Kunst

Da sich meine vorigen Posts insbesondere mit Selbstwahrnehmung beschäftigt haben möchte ich in diesem Beitrag die Brücke zur Kunst spannen. Die Recherche befasst sich mit der Wahrnehmung bezogen auf Kunst.

Kunst und Wissenschaft liegen näher beieinander als man vermuten würde. Seit langem schon beschäftigen sich Wissenschafter:innen mit Forschungsfragen wie etwa der Wahrnehmung von Kunst oder dem allgemeinem Schaffensprozess. Auch die Grundlagen der Kreativität werden hinterfragt und erforscht. 

Markus Lüpertz, ein berühmter Maler, Bildhauer, Musiker und Dichter zum Beispiel sagte 2015 „Der Künstler ist kein Mensch. Er ist ein Künstler, das ist etwas anderes“

Er sagt das künstlerische Schaffen geht mit einem einzigartigen Lebensstil einher und ist eine Komposition aus Vererbung, Unterstützung bzw. Ermutigung des Umfelds in jungen Jahren und eine nachhaltige Beschäftigung mit der Materie. Ein großes Bedürfnis an Anerkennung und teils auch psychologische Probleme gehen oft mit einer außergewöhnlichen Begabung einher. Als gute Beispiele dafür dienen Michealangelo, William Blake, Wassily Kandinsky und Edvard Munch. All jene litten unter schwerwiegenden Depressionen. Aber auch bei zeitgenössischen Künstlern wie Jackson Pollock, Henri Toulouse-Latrec und Modigliani zeichnet sich eine Störung ab. Gründe dafür sind oft persönliche Probleme, aber auch Mangel an Aufmerksamkeit oder Bewunderung, negatives Feedback oder schlechte Rückmeldung im öffentlich Raum können Auslöser sein. Heutzutage scheint der Druck um ein vielfaches größer zu sein, da Social Media und die stetige Präsenz im Rampenlicht hinzkommt. 

A die eigene Einstellung des Künstlers – eben auch sein Selbstbild – sind essenziell um eine:n Künstler:inn zu formen. 

Zahlreiche Künstler:innen der Vergangenheit als auch der Gegenwart beschäftigen mit sich selbst und schreiben folgliche Erkenntnisse eine zentrale Rolle in der eigenen Kunst zu. 

Der Künstler Willem DeKoonig erkrankte an Demenz, was sich maßgeblich in seiner Kunst abzeichnete. Seine Werke wurden immer abstrakter. Bilder, die auf eine Leinwand gebracht werden entstehen durch Wahrnehmung, Erinnerungen und generellem Wissen. Wenn dies zu bröckeln beginnt, hat es wesentlichen Einfluss auf das Werk. Eine freie, uneigeschränkte visuelle Abbildung kann ein positives Resultat daraus sein. Die Arbeiten werden unbeeinflusster und expressiver. 

Exkurs: Gedankenexperiment

Wie würden wir gestalten, formen, illustrieren, wären wir nicht ständig dem Einfluss sozialer Medien ausgesetzt? 

Außer Frage steht, dass viel Inspiration von diversen Platformen geschöpft wird und Austausch essenziell ist. Aber inwiefern würden sich Arbeiten von Künstler:innen und/oder Designer:innen unterscheiden, hätten sie nie zuvor unter dem Einfluss sozialer Medien gestanden? 

Man müsste dieses Experiment weiterdenken und ebenso weit ausholen. Die Annahme würde voraussetzten, von Kind auf abgeschottet Leben zu müssen. Alles um uns herum ist gestaltet und designt. Kann man ein Plakat unbeeinflusst gestalten, wenn man mit Werbung umgeben ist. 

Nehmen wir also an, man würde gänzlich abgeschottet jeglicher Zivilisation aufwachsen und die Person dazu anhalten ihre Eindrücke zu Papier zu bringen. Wie würde das aussehen? 

Natürlich sollte die Person eine künstlerische Ader haben – oder?

Wie würde sich das Selbstbild dieser Person im Vergleich zur selben Person aber in einem anderen Lebensraum unterscheiden? Ist sie überhaupt in der Lage sich selbst gut einzuschätzen. Im zweiten Blogeintrag wurde auf die Entstehung eines Selbstbildes Bezug genommen. Dies entsteht eben aus Feedback von Personen im Umfeld. 

Wahrnehmung von Kunst

Wir alle nehmen Kunst unterschiedlich wahr. Oberflächliche Faktoren, die darüber entscheiden wie ein Kunstwerk bei Betrachter:innen ankommt sind – klar – das Motiv, die Größe, Materialität und Inhalt des Werkes. Zusätzlich aber spielen Wissen in und über Kunst, der Gemütszustand der Betrachter:innen und deren Erfahrungen, aber auch der Bekanntheitsgrad des Künstlers/der Künstlerin eine wesentliche Rolle. 

Eine gute Balance zwischen einem komplexen Bildaufbau und Ordnung also auch eine akkurate Mischung aus Bekanntem und Unbekannten regen Betrachter:innen an und hinterlassen gute Eindrücke und Erfahrungen. 

Eine empirische Studie konnte nachweisen, das die Verwendung des Goldenen Schnitts in Kunstwerken nicht automatisch als harmonischer warhgenommen werden und man aufgrund deswegen ein Bild nicht gleich präferenziert. 

Abstrakte Kunst wird vermehrt von Menschen verstanden wie auch wertgeschätzt, die sich intensiviert mit Kunst beschäftigen. Neulinge können oft wenig mit ihr anfangen. 

Das lässt darauf schließen, dass Expert:innen Kunst aufgrund kognitiver Modelle betrachten. 

Während Laien sich eher auf Vertrautheit und ihre Intuition verlassen. Das Bild gefällt oder eben auch nicht –dies  zu begründen fällt dementsprechend schwer. 

Diese Unterschiede lassen sich ausgezeichnet mit dem Modell der Informationsverarbeitung vergleichen. Hier wird zwischen Bottom-up-Verarbeitung und Top-down Verarbeitung unterschieden. Ersteres spiegelt die Reizverarbeitung des visuellen Systems mithilfe von Formen, Farben und Mustern wieder. Die-Top-down-Verarbeitung der visuellen Reize wird hingegen wird stark von gespeicherten Mustern und Wissen beeinflusst.

Künstler:innen, die die Wahrnehmungspsychologie als wichtiges Werkzeug einsetzen sind zum Beispiel der niederländische Künstler M.C. Escher (1898-1972) als auch der deutsch- amerikanische Maler Josef Albers (1888-1976). 

Escher experimentierte mit optischen Täuschungen und setzte diese höchst mathematisch um. Auf den ersten Blick wirken viele seiner Arbeiten normal, erst bei näherem Betrachten schalten sich Erlerntes und Erfahrenes ein und man differenziert zwischen Surr- und Realität. 

Albers hingegen macht sich die physiologischen Wirkungen und Wechselwirkungen von Farben zunutze. Anhand von Zusammenstellungen von verschiedenen Quadraten ruft er chromatische Interaktionen hervor (Siehe Bild unten). 

Quellen:
https://wissenschaft-kunst.de/irene-daum-psychologie-und-kunst/

https://www.wikiart.org/de/m-c-escher

http://www.artnet.de/künstler/josef-albers/

Selfies

“Ein Selfie ist ein von sich selbst (oder von sich selbst und anderen Personen), die mit einer Kamera oder einem Fotohandy aufgenommen werden, das auf Armeslänge gehalten wird oder auf einen Spiegel gerichtet ist, und die üblicherweise über soziale Medien geteilt werden”.

Eine später formulierte und durchaus weitgreifendere Definiton von Dinhopl und Gretzel lautet indessen: „Ein Selfie ist gekennzeichnet durch den Wunsch, das eigene Ich in einem Bild festzuhalten, das afugenommen wurde, um es mit einem Online-Publikum zu teilen“. 

Das Selfie ist die zeitgenössische Form sich selbst in Szene zu setzen und darzustellen. Es wird ein Bild von sich selbst gezeichnet dass sich zunehmend mitentwickelt, verändert und formt. Stets unter außenstehenden Einflüssen und selbstverständlich um es auf sozialen Kanälen zu teilen. Es ist wie ein Spiegelbild – nur ein bisschen abgewandelt . 

Grundsätzlich kann man festhalten, dass aufgenommene Fotos die Welt darstellen, wie wir sie sehen. Demnach ist das Selfie eine Abbildung dessen, wie wir uns selbst sehen. Wie beim vorherigen Blogeintrag bereits erwähnt ist das Selfie keine Erfindung der Neuzeit. Bereits Dürrer und Rembrandt verwendeten das Seblstportrait im 16. Jahrhundert um ihre Charaktere zu offenbaren und mit einem Publikum zu teilen. Kunsthistorische gesehen tut das heutige Selfie nichts anderes. Es erzählt etwas über den oder die Autor:in. 

Mittlerweile ist die psychologische Untersuchung des Selfies und seine Auswirkungen auf Geist und Psyche zu einem eigenen Segment geworden, das zahlreiche Forschende beschäftigt. Unter anderem wird der Zusammenhang von Narzissmus und dem Selfie erforscht. Dabei fand man heraus, dass diese beiden Positionen in einem weitaus größerem Zusammenhang bei Männern als Frauen stehen. Parallel dazu besagt eine weitere Studie, dass das Selfie mittlerweile eine gängige Art der Kommunikation darstellt und demnach in keinem Zusammenhang mit Narzissmus oder ähnlichem steht. 

„Die psychologische Theorie des Impressions – Management geht davon aus, dass Menschen dazu neigen, Eindrücke von sich selbst zu schaffen und zu teilen, die in Richtung ihrer gewünschten Identitäten tendieren (Markus und Nurius, 1986)“

Ein weiterer Grund, warum wir unser Selbst gerne abbilden und der Welt mitteilen, ist wohl, um Kontrolle darüber zu erlangen, ob sich unser Selbst- mit unsererm Fremdbild deckt. 

Die Identität setzt sich aus Selbst- und Fremdbild zusammen. In anderen Worten aus interner Identifikation und externer Zuschreibung. Identität ist die Überschneidung dessen, was andere von jemandem sehen und wahrnehmen und dem, was jemand fühlt oder wer man sein möchte. 

Selten gelingt es eine reale Abbildung zu veröffentlich, da der Zwang zur Optimierung eine zentrale Rolle einnimmt.